Mit Chopin hatte alles begonnen. Keine andere Musik ging dem chinesischen Pianisten so sehr zu Herzen wie die Klavierwerke des polnischen Komponisten.
Fokussiert und leidenschaftlich: Li Yundi
Bei Chopin konnte Li Yundi all seine Gaben zur Geltung bringen: seinen leidenschaftliche Furor, seine Virtuosität und seine ungeheure Fokussiertheit. Chopin passte einfach. Mit ihm hatte der frühreife Meisterpianist sein kongeniales Pendant gefunden. Und als er dann im Jahre 2000 den renommierten Chopin-Wettbewerb von Warschau gewann, da war dies der Startschuss zu einer großen Karriere. Mit 18 Jahren war Li Yundi der jüngste Gewinner in der Geschichte des Warschauer Wettbewerbs. Das Publikumsinteresse wuchs stetig, und irgendwann nahm es astronomische Dimensionen an.
Heute hat Li Yundi auf Weibo, dem chinesischen Twitter, 18 Millionen Follower. Bei Konzertübertragungen in seiner Heimat lockt er eine Billion Zuschauer vor die Bildschirme. Dennoch ist der 1982 in der chinesischen Metropole Chongqing geborene Ausnahmekünstler nie abgehoben. Der Erfolg stieg ihm nicht zu Kopf. Seine weltweit gefeierten Auftritte hinderten ihn nicht daran, weiterhin an seiner Kunst zu arbeiten. Li Yundi, der seinen vollständigen bürgerlichen Namen vor einigen Jahre ablegte und nun ausschließlich auf seinen Vor- und Künstlernamen Yundi hört, verfolgte eine Doppelstrategie.
Fit fürs 21. Jahrhundert: Chopin
Einerseits beglückte er sein Publikum immer wieder mit fantastischen Konzerten. Andererseits hielt er sich Zeit frei, um seine Kunst weiter zu perfektionieren. Yundi ist ein hochkonzentrierter Mann. Er möchte immerzu lernen. Wie alle großen Künstler, ist er nie endgültig zufrieden mit sich. Deshalb hat er seine Spielkultur von Jahr zu Jahr verfeinert und die Klangmöglichkeiten der romantischen Klaviermusik mit immer größerem Geschick erweitert. Die Ergebnisse sprechen für sich.
Yundi hat maßgeblich dazu beigetragen, den romantischen Ausdruck zu erneuern, und mit seinem neuen Album setzt er einen weiteren Meilenstein in seiner großartigen Laufbahn. “Chopin: Ballades” ist ein außerordentliches Album. Es zeigt den chinesischen Künstler auf dem Zenit seiner pianistischen Spielkunst. Der filigrane Tastenmagier lotet die Modernität Chopins tief aus. Seine Interpretation der vier Balladen von Frédéric Chopin ist eine Offenbarung. Sie bringt eine harmonische Farbvielfalt zum Vorschein, die überwältigend ist.
Diskreter Charme: Überwältigende Wirkung
Dabei ist Yundi niemals sentimental. Sein Spiel zeichnet sich eher durch Zurückhaltung aus. Aber gerade hierdurch erzielt er eine soghafte Wirkung. Yundi betrachtet Chopin als einen Komponisten, der bei aller inneren Erregung und wilden Leidenschaft stets auch ein Formvollender war. Die eruptiven Ausbrüche Chopins sind gewaltig. Sie zeugen von erschütternden Gefühlswallungen. Aber die Heftigkeit des polnischen Komponisten darf nicht über seine Eleganz hinwegtäuschen. Davon ist Yundi überzeugt.
Um die Poesie in Chopins Musik zum Vorschein zu bringen, dürfe man “weder übermäßig erregt noch zu zart sein”, so der Pianist in einem Fernseh-Interview. Es komme vielmehr darauf an, die Balance zu halten. Und dass Yundi hiervon etwas versteht, demonstriert er eindrucksvoll. Die Mazurkas 1–4 (op. 17), die neben den vier Balladen sein neues Album schmücken, spielt er in kraftvoller tänzerischer Manier, und bei der Berceuse in Des-Dur (op. 57) dringt er mit ergreifendem Feingespür in die zärtlichen Tiefen Frédéric Chopins ein.