Claudio Abbado hat Maßstäbe gesetzt. Der italienische Ausnahmedirigent, ein Gentleman alter Schule, revolutionierte den Klassikbetrieb auf leisen Sohlen.
Kaum ein anderer Dirigent hat bis ins hohe Alter hinein so konsequent an jungen Leuten festgehalten. Dabei ging es ihm nicht darum, seinen Meisterstatus herauszustellen und sich bewundern zu lassen. Im Gegenteil: Claudio Abbado bewunderte die musikalische Jugend und wollte von ihr lernen. So vornehm und konservativ seine Umgangsformen waren, im Herzen war er modern, ein Revolutionär, der nichts so sehr verachtete wie die Gewohnheit.
Wo er auch hinkam, er versprühte den Geist des Aufbruchs. Als er im Jahre 1989 die Berliner Philharmoniker übernahm, hatte sich das Orchester gerade vom großen Karajan verabschiedet und stand noch ganz im Bann dem unangefochtenen autoritären Gestus‘ des Jahrhundertdirigenten. Abbado hingegen kam und machte das Orchester Staunen mit seiner demokratischer geprägten Herangehensweise.
Claudio Abbado war experimentierfreudig. Er konnte zuhören und bewahrte sich selbst gegenüber stets ein gehöriges Maß an kritischer Distanz. Wie ein bestimmtes Werk zu klingen hat, darüber hatte er keine festgefügten, unumstößlichen Vorstellungen. Musik war für ihn ein Prozess, den er gemeinsam mit seinem Orchester zu durchlaufen hatet. Abbado bezog ein Dirigentenleben lang seine Autorität aus einem diskreten Führungsstil.
Seine Aufnahmen profitieren davon, dass ihm immer wieder neue Ideen kommen. Claudio Abbado gehörte nicht zu den Dirigenten, bei denen man, nach dem Hören einer Aufnahme auf den Charakter aller weiteren schließen konnte. Obgleich er eine ureigene Klangkultur entwickelt, zeichnet sich seine Interpretationskunst doch vor allem dadurch aus, dass sie atmet, dass sie durchlässig bleibt. Wenn man Abbado hört, dann öffnet sich eine Tür und unermessliche Landschaften von überwältigender Farbenpracht treten ans Licht.
Das war in seiner phantastischen Sinfonien-Edition, die erstmals 2013 aus Anlass seines 80. Geburtstags erschien, bereits umfassend zu erleben. Mit der großen Opernedition, die soeben herausgekommen ist, kann man jetzt noch tiefer in das künstlerische Zentrum von Claudio Abbado vordringen, war der italienische Jahrhundertdirigent doch vor allem ein Mann des Musiktheaters. “Claudio Abbado: The Opera Edition” umfasst 60 Tonträger und lässt einen ganzen Opernkosmos erstehen.
Überwältigende Arien in Hülle und Fülle warten auf die Hörerinnen und Hörer, die sich auf Sängerstars wie Anna Netrebko, Mirella Freni, Katia Ricciarelli, Thomas Hampson, Jonas Kaufmann, Plácido Domingo und viele andere freuen dürfen. Das Repertoire reicht von Opernklassikern Mozarts, Beethovens, Rossinis, Wagners, Verdis und Bizets bis hin zu Neuerern der modernen Operngeschichte wie Debussy mit seiner psychologisch doppelbödigen Oper “Pelléas et Mélisande” oder Alban Berg mit seinem gesellschaftskritischen “Wozzeck”.
Das alles in dem ebenso gediegenen wie elektrisierend modernen Abbado-Sound, der jetzt übrigens auch in der heiß begehrten Sinfonien-Edition wieder zu erleben ist, erfährt sie doch im Zuge der Opernedition eine Neuauflage. Bleibt der Hinweis auf das großartige Booklet der Ausgabe, das mit einem brandneuen Essay von James Jolly aufwartet und wundervolle Fotos von Claudio Abbado enthält. Hier sieht man ihn etwa an der Seite von Anna Netrebko, bei der Studioarbeit und natürlich am Pult. Ein reich beschenktes Künstlerleben wird greifbar!