Schon zu Lebzeiten war Claudio Abbado eine Legende. Kritik und Publikum war es gleichermaßen bewusst, dass sie es mit einem musikalischen Genie zu tun haben. Der italienische Maestro vermochte jedem Orchester seine einzigartige Magie einzuhauchen.
Claudio Abbado war reich an Charisma und Eleganz, verstand es jedoch, durch seine Bescheidenheit die alle Konzentration auf die Musik zu lenken. Er suchte, wie er es selbst einmal ausdrückte, nach den außergewöhnlichen, den magischen Momenten in der Musik. Ihnen widmete er sein ganzes Streben. Claudio Abbado war jener Magie schon früh begegnet. Als er sieben Jahre alt war, hörte er in der Scala die “Nocturnes” von Claude Debussy. In der zweiten Nocturne, den “Fêtes”, wurde er plötzlich überwältigt von den aus der Ferne klingenden Trompeten.
“Dieser Moment hat mich sofort verzaubert”, so Claudio Abbado gegenüber Julia Spinola. “Von da an wusste ich: Das möchte ich einmal machen!” Dass er diesem Zauber auf der Spur blieb, bezeugen seine großartigen Aufnahmen. Der italienische Dirigent entwickelte eine ureigenes Klangbewusstsein: ein schwebender, zugleich modern und romantisch anmutender Sound, den er mit unterschiedlichen Orchestern in jeweils unterschiedlichen Farbschattierungen verwirklichte.
Das macht seine Einspielungen bis heute so attraktiv, und deshalb lösen seine Aufnahmen nach wie vor eine überaus starke Resonanz aus. Was für die begehrten Neuauflagen bereits erschienener Einspielungen zutrifft, muss für Erstveröffentlichungen von Claudio Abbado in einem ganz besonderen Maße gelten. Jetzt kommt ein Live-Mitschnitt des italienischen Dirigenten in den Handel – eine Aufnahme die fast fünf Jahrzehnte im Archiv des österreichischen Rundfunks verborgen war.
Die lange Zusammenarbeit zwischen Claudio Abbado und den Wiener Philharmonikern begann 1966, als der junge Dirigent Karajans Einladung folgend das Spitzenorchester zum ersten Mal dirigierte. Die Orchestermitglieder waren von der Leistung des damaligen Musikdirektors der Scala so begeistert, dass sie ihm die einluden, in der nächsten Saison eines ihrer Abonnementkonzerte zu dirigieren. Das Konzert wurde vom Österreichischen Rundfunk am Pfingstmontag, den 31. Mai 1971, im Goldenen Saal des Wiener Musikvereins aufgezeichnet. Jedoch geriet die Aufnahme in Vergessenheit, bis sie bei den Vorbereitungen für das 175-jährige Jubiläum des Orchesters wiederentdeckt und zur späteren Veröffentlichung ausgewählt wurde. Zu erleben sind die Wiener Philharmoniker in einer mitreißenden Aufführung von Schuberts Sinfonien Nr. 5 und Nr. 8.
Eine wichtige Eigenschaft von Claudio Abbados Probenarbeit war seine stete Aufforderung an die Orchestermusiker, sich gegenseitig zuzuhören und aufeinander einzugehen. Dieses Klangideal ist dem Live-Mitschnitt jederzeit anzumerken. Schuberts Sinfonie Nr. 5 in B-Dur atmet den Geist einer modern interpretierten Romantik, die jede sentimentale Last abgeworfen hat. In Schuberts Sinfonie Nr. 8, der berühmten “Unvollendeten” in h-Moll, überwiegen melancholische Klänge, deren gleichzeitige Transparenz und Sanftheit beeindrucken.
Claudio Abbado war 38 Jahre alt, als die Aufführung stattfand. Der junge Dirigent hatte soeben sein Amt als Musikdirektor der Mailänder Scala angetreten. Er hatte sich damals bereits Verdienste um die musikalische Avantgarde erworben. Die Lust an dem unbefangenen, neuen Hören war einer seiner wichtigsten Antriebe. Das machte sich auch bei dieser Schubert-Aufnahme bezahlt, wie man in dem gerade erschienenen Album eindrucksvoll erleben kann.