Es ist lange her, dass der Tod eines großen Künstlers so kontinuierlich nachhallte, wie das bei Claudio Abbado der Fall ist. Die Trauer will bis heute nicht abklingen.
Wann immer man etwas über ihn liest, wird wieder und wieder seine musikalische Größe gepriesen und sein früher Tod beklagt. Als ob er noch lebte, ist von seiner Sanftmut, seinem Feinsinn und seiner musikalischen Intelligenz die Rede. Davon, wie er Kompositionen, die schon tausendfach interpretiert worden sind, plötzlich in einem neuen Lichte erscheinen lässt. Und nicht zuletzt wird sein kulturpolitisches Engagement betont.
Abbado hat etliche Orchester gegründet. Er war ein unermüdlicher Organisator von Festivals und Konzerten, bei denen junge und erfahrene Musiker zusammenkamen. Dort herrschte reger Austausch. Es wurde diskutiert und experimentiert. Die Künstler lernten voneinander. Sie hatten Freiräume, in denen es nur um die Musik ging, und diese Freiräume, die Claudio Abbado schuf, nutzten sie, um große Kunst zu produzieren.
Ein solcher Mann ist unersetzlich. Was er als Dirigent und Organisator geleistet hat, kann in dieser Form nicht wiederholt werden. Das musikalische Werk steht für sich. Es besitzt Eigenwert, und erhalten bleibt es einzig und allein durch die zahlreichen Aufnahmen, die der Meister hinterlassen hat. Dabei hat es mit der soeben erschienenen Aufnahme etwas Besonderes auf sich. Es ist die letzte Aufnahme, die Claudio Abbado vor seinem Tod zur Veröffentlichung freigegeben hat, und in ihr widmet er sich einem Komponisten, der ihn zeitlebens fasziniert hat: Franz Schubert. Bei ihm kann Abbado seiner Neigung nachgehen, Geheimnisse zu entdecken. Denn das ist Franz Schubert: geheimnisvoll. Der stille Romantiker hält ein unerschöpfliches Reservoir an unerwarteten Einfällen bereit.
Manch einer glaubt ihn zu kennen, hält seine Melodien für brav und unbedarft, vielleicht weil sie so schlicht und still daherkommen. Doch dann bricht es aus Schubert heraus: elegische Ekstasen, grenzsprengende Poesie, unendliche Weiten. Das passt ganz und gar nicht zu dem provinziellen Bild, das man sich von Schubert gemacht hat. Das ist modern. Das ist wild. Darin brodelt es, und Claudio Abbado versteht sich glänzend auf romantische Gefühle, die sich in komplex geschichteten Harmonien Ausdruck verschaffen. Der italienische Dirigent erkennt hinter der stillen Unschuld Franz Schuberts die heraufziehende Moderne, und an Schuberts Sinfonie in C-Dur (“Die Große”, D 944) kann er diese Verbindung von romantischer Sehnsucht und modernem Ausdruck illustrieren.
Die Sinfonie gehört zu den gediegensten Werken Franz Schuberts. Sie fließt langsam mit zauberischen Melodien dahin. Hier und da scheint ein Moment von Wehmut auf. Versöhnliche Empfindungen changieren mit intensiver Sehnsucht, und in keiner Einspielung kommt diese Spannung zwischen Zufriedenheit und dem Bedürfnis, noch etwas Großes erleben zu wollen, so treffend zur Geltung wie in Abbados soeben erschienener Aufnahme mit dem Orchestra Mozart. “Schubert. The ‘Great’ C major Symphony” enthält Live-Mitschnitte, die im September 2011 bei Konzerten in Bozen und Bologna gemacht wurden. Man spürt die Unmittelbarkeit, die atemberaubende Präsenz der Musik. Die Aufnahme ist spannungsgeladen.
Das Orchestra Mozart lässt den “ewigen Jugendkeim”, den Robert Schumann in dieser Sinfonie vermutete, natürlich gedeihen. Ein doppeltes Verdienst Claudio Abbados, der das Orchester im Jahre 2004 mitgründete und es äußerst sanft lenkt. Im Mozart Orchestra spielen erfahrene Solisten wie Bassist Alois Posch oder Bratschist Wolfram Christ mit jungen, enthusiastischen Instrumentalisten zusammen, und diese Mischung aus musikalischer Reife und jugendlicher Sehnsucht bahnte wahrscheinlich den Weg zu dieser ergreifenden Aufnahme von Schuberts großer Sinfonie in C-Dur.