Zehn Jahre ist es her, da legte Max Richter mit “Recomposed” ein bahnbrechendes Album vor, das sich zu einer einzigartigen Erfolgsgeschichte entwickelte. 450 Millionen Mal wurde die Aufnahme gestreamt. In 22 Ländern stürmte sie die Klassik-Charts. Richters Transformation des barocken Meisterwerks in eine Klangarchitektur des 21. Jahrhunderts stieß weltweit auf Begeisterung.
Der Komponist führte das Werk in der Folge immer wieder auf, und obgleich sich kein Gefühl der Unzufriedenheit einstellte, war er mit der Arbeit noch nicht fertig. Seinen Plan, eine neue Version aufzunehmen, mit jungen Mitstreitern, auf alten Instrumenten und mit anderen Akzenten, erläuterte er gegenüber der britischen Musikjournalistin Clemency Burton-Hill wie folgt: “Es ist eine neue Reise durch die Partitur in Vivaldis eigenen Farben.”
Historische Instrumente schwebten Richter vor, weil er in seiner Neuinterpretation dem Farbenreichtum in Vivaldis Violinkonzerten näherzukommen wünschte. Für das Chineke! Orchestra, mit dem er das Projekt realisierte, ein Novum. Das multikulturelle Ensemble, für Richter ein ermutigendes Symbol des fortschreitenden Wandels im etablierten Musikbetrieb, studierte in London mithilfe dreier Barockspezialisten die alten Instrumente, bevor im November 2021 in Richters neu erbauten Studiokomplex in Oxfordshire die Aufnahmen für das Album stattfanden. Bei den Sessions wurde lebhaft über die Musik diskutiert. Die für den Solopart verantwortliche Geigerin Elena Urioste erinnert sich mit Begeisterung an das Team: “Es geschieht nur selten, dass in einem Projekt, an dem so viele Leute beteiligt sind, ein solches Engagement aufkommt. Das Musizieren hat sich natürlich, schön und warm angefühlt.”
Dieser euphorische Geist des Projekts vermittelt sich eindrucksvoll auf dem gerade erschienenen Album. Man spürt bei jedem Klang, jedem rhythmischen Akzent und jeder Neueroberung von Vivaldis funkensprühenden Ideen die Lust des Aufbruchs zu neuen Ufern. Schon in der flirrend-erwartungsvollen Atmosphäre des Frühlingsthemas wähnt man sich wie weggebeamt, als wäre man in einem Orbit, wo mit Zuversicht, Freude und wechselseitigem Respekt etwas gewagt werden darf.
An einem solchen Ort ist musikalisch vieles denkbar, was auf den ersten Blick unmöglich scheint. Zum Beispiel, dass der Moog, ein Synthesizer aus den Siebzigern, den Kenner laut Richter als eine Art Stradivari solcher Instrumente begreifen, sich organisch mit den historischen Instrumenten verbindet.
Am eindrücklichsten vielleicht in den winterlichen Impressionen, deren erster Teil überraschend schroff beginnt. Später folgt eine geheimnisvoll rauschende, elektronische Klangfläche, über der die lyrischen Töne aus Uriostes Geige sanft hinweggleiten. Eine ureigene, träumerische Welt, ein musikalisches Utopia, das sich Max Richter mit “The New Four Seasons” geschaffen hat und zu dem er jetzt öffentlich einlädt.