Kaum ein Komponist der Gegenwart widmet sich so fokussiert und hingebungsvoll den globalen Herausforderungen unserer Zeit. Ob es dabei um die Rastlosigkeit des modernen Menschen geht, um Kriege oder die in vielen Ländern der Welt täglich stattfindenden Menschenrechtsverletzungen: Max Richter reagiert mit seiner Musik darauf, lädt die Leute, wie in seinem Album “Sleep”, zum Ruhen und Träumen ein oder erinnert, wie in “Voices”, an die Bedeutung der Menschenrechte.
Sein neuestes Album, das soeben auf Deutsche Grammophon erschienen ist, verfolgt diese gesellschaftspolitischen Spuren weiter. Erneut konfrontiert sich der Komponist mit den großen Fragen unserer Zeit, diesmal mit Flucht und dem prinzipiellen Unterwegssein des Menschen in der Welt.
Das Album trägt den Titel “Exiles”, nach dem gleichnamigen Orchesterwerk des Komponisten, das um 2015 unter dem Eindruck der großen Flüchtlingsbewegung nach Europa entstand. Richter bewegte das Schicksal der Migranten. Mit seiner Musik suchte er ein Gespür für die Lage der Flüchtenden zu wecken. Neben “Exiles” enthält das Album, das der Komponist gemeinsam mit dem Baltic Sea Philharmonic unter der Leitung von Kristjan Järvi aufgenommen hat, ältere Schlüsselwerke des Komponisten in neu orchestrierter Gestalt.
Unter den neu arrangierten Arbeiten stechen “On the Nature of Daylight” und “Flowers of Herself” als besondere Kostbarkeiten heraus. “On the Nature of Daylight” stammt von der wegweisenden Scheibe “The Blue Notebooks”, wo es mit fünf Streichern in einer intimen Fassung zu erleben war. Jetzt erklingt es mit über 65 Streichern des empfindsam musizierenden Baltic Sea Philharmonic und entfaltet in der großflächigen Form eine überwältigende Wirkung.
“Flowers of Herself” gehört Richters Musik zu Wayne McGregors Ballett “Woolf Works” an. Es fand aus programmatischen Gründen nicht Eingang in das Album “Three Worlds: Music From Woolf Works”. Jetzt präsentiert Max Richter das Stück in einer Weltersteinspielung. Dargeboten in einer Lang- und Kurzversion, bildet es mit seiner hochdynamischen Stimmung den Kontrapunkt zu dem lyrisch fließenden Klangstrom von “Exiles”.
Einübung des Mitgefühls
In dem Ballett von McGregor hatte “Flowers of Herself” die Funktion, die ruhelose Geschäftigkeit des Stadtlebens darzustellen. “In der Stadt sind alle unterwegs, es ist Bewegung, Bewegung, Bewegung”, so Richter, der mit dem Stück im Kontext seines neuen Albums das Fluchtmoment unser aller Leben ins Blickfeld rücken möchte. In “Exiles” dagegen stellt sich Flucht als langer, mühsamer Weg dar. Das Orchesterwerk, eine 33-minütige Ballettmusik, die von den beiden Haus-Choreographen des Nederlands Dans Theater, Paul Lightfoot und Sol León, in Auftrag gegeben und 2017 zu dem Tanztheaterstück “Singulière Odyssée” in Den Haag uraufgeführt wurde, entfaltet eine beeindruckend weiträumige, elegische Klangpoesie. Die Musik schreitet in wiederkehrenden Mustern gemessen voran. Der Weg scheint sich endlos hinzuziehen, bis er sich am Ende in bebenden Zonen verliert. Eine bedrohliche, hochverletzliche Atmosphäre, die nachdenklich, mitfühlend stimmt. Genau das, was der Komponist beabsichtigte.