Es waren Wochen, an denen die Welt stillstand: Zwischen März und dem 1. Mai 2003 eroberten US-amerikanische und britische Truppen Bagdad. Die Invasion war der Beginn des Irak-Kriegs. In London setzte der Komponist Max Richter seine beiden kleinen Kinder in ihren Buggy und nahm sie mit auf einen der größten Demonstrationszüge in der Menschheitsgeschichte.
Er schrieb sich den Frust von der Seele, vertonte Texte des polnischen Dichters Czesław Miłosz und andere aus Kafkas Blue Octavo Notebooks (gelesen von der Schauspielerin Tilda Swinton). In nur drei Stunden produzierte Richter ein Album von eingängiger, melancholischer Schönheit, voller suggestiver Kraft, mit untergründiger, faszinierender, traumwandlerischer Musik. “The Blue Notebooks” marschierte durch die Institutionen der Popkultur, ging den Weg vom Kult-Klassiker zum Trendsetter und kam beim Genre-definierenden Meisterwerk an. Vergleiche mit Sgt. Pepper’s, Rumours, Trans-Europe-Express, Purple Rain, Nevermind et cetera sind erlaubt.
Am 11. Mai erscheint das epochale Album neu, in verschiedenen Formaten, als e-Album, Doppel-CD und Doppel-Vinyl-Ausgabe, mit neuem Artwork und Bonusmaterial. Für zwei Remixe hat Richter den schottischen Techno-Produzenten Konx-Om-Pax und die US-amerikanische Beat-Virtuosin Jlin engagiert. Zusätzlich gibt es in der Neuausgabe ein unveröffentlichtes Stück und verschiedene Arrangements, die einst für The Blue Notebooks geschrieben, aber erst in diesem Jahr aufgenommen worden sind. Er sei „noch einmal ins Hinterland des Albums eingetaucht; diese Stücke bilden den Kontext“, erklärte Richter. Eine im Juni erscheinende Super-Deluxe-Edition enthält zusätzlich exklusiv sein brandneues Stück “Cypher”.
Als einer der Ersten verbindet er dort klassische und elektronische Elemente in minimalistischen, gleichzeitig vertraut und neu klingenden Kompositionen. Heute ist das gängig, vor 15 Jahren war es revolutionär. The Blue Notebooks spiegelt einerseits den Einfluss von minimalistischen Komponisten wie Philip Glass und Steve Reich – nicht zu vergessen Arvo Pärt – auf Richter, und andererseits machte Richter da weiter, wo er einige Jahre zuvor in seiner Arbeit für britische Electronica-Bands wie Future Sound of London und Reprazent aufgehört hatte.
Richter hat die Fusion von moderner Klassik mit elektronischen Elementen und Naturgeräuschen zu seiner kompositorischen Handschrift gemacht. Auch in seinen vielen preisgekrönten Soundtracks gibt es immer wieder Momente, die an die Blue Notebooks anklingen. Das Album wurde darüber hinaus zum Wegweiser einer neuen Komponisten/Produzenten-Generation, aus der Künstler wie Ólafur Arnalds, Tale of Us und der kürzlich verstorbene Jóhann Jóhannsson hervorgingen. Millionenfach gestreamt und in zahlreichen Filmen (Waltz with Bashir, Arrival, Shutter Island und anderen) verwendet, ist der Klang der Blue Notebooks für Viele der Klang unseres Jahrhunderts.
Wenn er heute die Musik der Blue Notebooks aufführe, klinge sie vertraut und fremd in Einem, kommentierte Richter kürzlich im Guardian. Die Zeit ist vergangen. Er sei heute ein Anderer, aber die Ereignisse vor 15 Jahren wirken immer noch nach. “Uns alle hat dieser politische Moment verändert”, schreibt Richter. “Aber ich bin sicher, dass die menschliche Kreativität die Welt beeinflussen kann, zumindest die Art, wie wir die Welt wahrnehmen.”