Krystian Zimerman liebt die Musik über alles. Deshalb beschützt er sie mit unerbittlicher Strenge. Der polnische Starpianist lässt nichts gelten, was nicht den allerhöchsten Ansprüchen genügt.
Diese Messlatte legt er an alles in der Kunst an, auch an sich selbst. Es dauert lange, bis der berühmte Chopin-Interpret und feinsinnige Romantiker mit einer eigenen Arbeit zufrieden ist. Wenn es dann soweit ist, darf sich das Publikum auf ganz besondere Kostbarkeiten freuen. So war es mit seinem zuletzt erschienenen, frenetisch gefeierten Schubert-Album, seinem ersten Solo-Rezital nach 25 Jahren öffentlicher Zurückhaltung.
So ist es auch jetzt, mit seinem gerade erschienenen Album, das ungeheure Tiefen von Bernsteins Sinfonie Nr. 2 “The Age of Anxiety” auslotet. “Spielst du dieses Stück mit mir, wenn ich 100 bin?”, fragte Bernstein den Pianisten vor über 30 Jahren. Zimerman, voller Bewunderung für die wilde Energie und den Erfindungsreichtum des US-amerikanischen Komponisten und Dirigenten, schlug ein.
Was hier im Scherz beschlossen wurde, gewinnt in diesem Jahr eine echte Dringlichkeit. Am 25. August 2018 feiert die Klassikwelt den 100. Geburtstag von Leonard Bernstein, der im Jahre 1990 einem schweren Lungenleiden erlag. Doch auch wenn die beiden Freunde nicht mehr zusammen auf der Bühne stehen können: Für Krystian Zimerman hat sich Bernsteins Wunsch deshalb noch lange nicht erledigt. Zimerman wäre indes nicht Zimerman, wenn er nicht auch von der musikalischen Größe der besagten Bernstein-Sinfonie überzeugt wäre.
“Schon zwei Jahre vor dem Jubiläum dachte ich daran, dass er demnächst 100 geworden wäre”, so Zimerman. “Also habe ich mir die Musik wieder angesehen – und sie ist großartig. Eine wahre Freude. Und sie hat so viel von ihm – die Frische, Flexibilität und Verrücktheit seines Wesens.” Mit wem hätte Zimerman dieses Projekt aber besser realisieren können als mit Sir Simon Rattle? Der britische Dirigent ist, wie Zimerman auch, zugleich ein echter Romantiker und entschiedener Neuerer.
Romantische Sehnsucht und moderner Ausdruck – beides kommt auch in Bernsteins bebender Sinfonie Nr. 2 “The Age of Anxiety” zusammen. Die Titelbeigabe der Sinfonie geht auf ein Erzählgedicht von W. H. Auden zurück, das Bernstein maßgeblich zu seiner Komposition inspirierte. Der Text handelt von vier Barbesuchern, die unter dem Eindruck des Zweiten Weltkrieges die Frage nach dem Sinn des Lebens, nach Hoffnung und Glück aufwerfen.
Bernstein geht den dramatischen Stimmungsschwankungen dieses seelischen Suchprozesses in seiner Musik nach, und wie der jetzt erschienene Live-Mitschnitt aus der Berliner Philharmonie eindrucksvoll beweist, besitzen Rattle und Zimerman ein untrügliches Gespür für die romantisch angehauchte, mit jazzigen Elementen gefärbte, sinnlich-theatrale Sinfonik Bernsteins, der auf dem Album übrigens in einem kurzen Interview-Ausschnitt zu erleben ist.
Berührend, mit welcher Zartheit die Berliner Philharmoniker den melancholischen Prolog bergen, und atemberaubend, mit welcher Eleganz Zimerman Bernsteins hochgespannten musikalischen Kosmos zwischen lyrischem und furiosem Ausdruck durchmisst. Absoluter Höhepunkt: der jazzige Sound von “The Masque” aus dem zweiten Teil der Sinfonie. Zimerman at his best.