Als dem großen Pianisten Artur Rubinstein zum ersten Mal eine Partitur von Karol Szymanowski in die Hände fiel, war er auf Anhieb von dem hohen künstlerischen Rang des Verfassers überzeugt: “Sein Stil erinnerte an Chopin, die Struktur an Skrjabin, doch die Stimmführung und die gewagten eigenartigen Modulationen wiesen das Gepräge einer kraftvollen, originellen Persönlichkeit auf”, so Rubinstein, der in Szymanowski einen Seelenverwandten erblickte und sich später mit ihm anfreundete. Krystian Zimerman wiederum, der Mitte der 1970er Jahre als begnadeter Chopin-Interpret Bekanntheit erlangte und heute als einer der bedeutendsten Klaviervirtuosen weltweit gilt, freundete sich in jungen Jahren mit Rubinstein an, der sein väterlicher Mentor wurde.
Was die beiden Klaviervirtuosen miteinander teilen, ist nicht nur eine leidenschaftliche Begeisterung für Chopin, sondern auch ein Gefühl besonderer Verantwortung für die Klaviermusik von Karol Szymanowski. Zimermans gerade vollendete Mission in Sachen Szymanowski begann 1994 in der Konzerthalle des Tivoli in Kopenhagen, wo der Pianist den dreiteiligen Klavierzyklus “Masques” (op. 34) einspielte.
28 Jahre später, im Juni 2022, findet sich Zimerman in Fukuyama ein, um in der dortigen Hall of Art & Culture, das Arsenal seiner Szymanowski-Aufnahmen zu erweitern. In Japan nimmt er neben einer Auswahl von Szymanowskis “Préludes” (op. 1) und “Mazurkas” (op. 50) die “Variationen über ein polnisches Volksthema” (op. 10) auf. Zimerman hat eine besondere Beziehung zu dem Ort der Aufnahme. Yasuhisa Toyota, mit dem er befreundet ist, hat in Fukuyamas Hall of Art & Culture die Akustik gestaltet.
“In Toyotas Sälen”, bemerkt Zimerman gegenüber Jessica Duchen, “ist jeder Ton klar und deutlich zu hören, und trotzdem klingt alles warm und wie auf Samt gebettet.” Dies passt zu Zimermans Klavierspiel, das scharfe Konturen und weiche Übergänge auf seltsam magische Weise verbindet. Für Szymanowskis Klaviermusik erweist sich dies als ein enormer Vorteil. Die Schattierungen seiner farbenreichen Harmonien kommen dadurch ebenso detailgetreu wie weich ineinanderfließend zur Geltung.
Auf seinem neuen Album führt Zimerman seine Aufnahmen aus Fukuyama und Kopenhagen zusammen und demonstriert die poetische Spannbreite in Szymanowskis Klavierkunst: von den frühen, an Chopin und Skrjabin erinnernden “Préludes” über die wilde Expressivität der “Masques” bis hin zu den Mazurkas und Variationen, in denen der Komponist liedhaftes und tänzerisches Material aus der polnischen Tradition aufgreift und es mit seinem impressionistisch angehauchten Personalstil verbindet.
Zu den Highlights des Albums gehören neben den frühen “Variationen über ein polnisches Volksthema” (1904), in denen Zimerman atemberaubend virtuos agiert, die atmosphärisch dicht gewobenen “Masques” von 1915/16. In ihnen bringt Zimerman exotisch anmutende Klangfarben von ausgesuchter Schönheit ans Licht. Im Gegensatz zu den traumverlorenen Schönklängen der “Préludes” bebt und zittert diese Schönheit jedoch. Am Ideal des schönen Klangs hielt Szymanowski jedoch, wie Zimermans Album eindrucksvoll zeigt, Zeit seines Lebens fest.