Das Klavierspiel ist seine zweite Natur. Es fließt wie selbstverständlich aus seinem Körper, und das war schon in jungen Jahren so.
In einem Video aus den frühen siebziger Jahren sieht man den heute 56-Jährigen bereits im Kindesalter Bach spielen, und seine Hände schmiegen sich dabei den Tasten so organisch an, dass die Stimmführung ebenso deutlich wie weich zum Ausdruck kommt. Dass eine solche Jahrhundertbegabung prädestiniert ist, Chopin zu spielen, drängt sich in diesem Augenblick sofort auf. Der junge Pogorelich offenbart in seinem Bach-Spiel einen romantischen Esprit und ein gesangliches Feingespür, dass es einem schier den Atem verschlägt. Er versteht sich souverän auf die Wiedergabe der komplexen Harmoniegebilde Bachs. Aber es ist ihm nicht genug, sie korrekt erklingen zu lassen. Er möchte selbst in ihnen vorkommen, und so füllt er sie an mit seinem persönlichen Gefühl.
Seine erste Berührung mit Chopin muss Erweckungscharakter gehabt haben. Jedenfalls zeugt sein legendäres Vorspiel beim internationalen Chopin-Wettbewerb in Warschau davon, dass er in dem polnischen Komponisten einen Seelenverwandten gefunden hatte. Der Wettbewerb im Jahre 1980 wird ihn über Nacht bekannt machen. Nicht weil er ihn gewinnt, sondern weil ihm der Preis vorenthalten wird. Das Publikum ist außer sich. Die große argentinische Pianistin Martha Argerich verlässt unter Protest die Jury und gibt zu Protokoll: “Er ist ein Genie!” Wie auch immer ihn das prägte, musikalischen Eigensinn besaß er schon vorher, denn schon in Warschau trat er mit wildem Herzen ans Klavier und interpretierte die lyrischen Klangwelten Chopins mit ergreifender Gefühlsoffenheit, ehrlich und direkt.
Es folgte eine beispiellose internationale Karriere. Zwar hatte er stets auch Gegner, die sein freimütiges Spiel kritisierten, aber sein Publikum liebte ihn dafür umso mehr. Es identifizierte sich mit dem beseelten Romantiker, der notfalls auch gegen äußere Widerstände sein eignes Ding machte, und das hieß: volle Kraft voraus, jeden musikalischen Augenblick auskosten, und wenn es kraftvoll und laut klingen soll, dann ohne jeden Kompromiss. Das galt allerdings umgekehrt auch für sein piano, seine oftmals unterschätzte Fähigkeit, auch die Stille bis an ihre Grenzen auszureizen. 1982 wurde Pogorelich Exklusivkünstler bei Deutsche Grammophon, und es entstanden zahlreiche Aufnahmen, die auf 14 Alben anwuchsen. Diese Werke erscheinen jetzt erstmals in einer umfassenden Edition, die einen vollständigen Einblick in das Frühwerk des kroatischen Meisterpianisten gewährt.
Naturgemäß nehmen die Chopin-Aufnahmen einen prominenten Platz in der Edition ein: darunter klassische Einspielungen wie die 24 Préludes (CD 7), das Klavierkonzert Nr. 2 in f-Moll mit Claudio Abbado und dem Chicago Symphony Orchestra (CD 3) oder die 4 Scherzi (CD 14). Ein Chopin-Highlight: Auf der ersten CD hört man Ivo Pogorelich ein Jahr nach seinem großen Warschau-Auftritt noch einmal die Klaviersonate Nr. 2 in h-Moll von Frédéric Chopin spielen. Die kontrastreiche und überaus vitale Studioaufnahme von 1981 atmet noch den Geist von Warschau. Man ist hingerissen von dem pulsierenden Ausdruck des Pianisten.
Aber Pogorelich ist nicht auf Chopin beschränkt, sondern hat sein gewaltiges Pathos auch in andere Romantiker hineingelegt, wie zum Beispiel Beethoven und Schumann (CD 2) oder Franz Liszt und Alexander Scriabin (CD 8). Ein romantisches Juwel: Tschaikowskis Klavierkonzert Nr. 1 in b-Moll mit Claudio Abbado und dem London Symphony Orchester. Nie hat man das Konzert eindringlicher gehört! Neben diesen Klassikern: lauter wunderschöne Perlen, Bachs Englische Suiten Nr. 2 und 3 etwa, denen der Pianist viel Farbe verleiht und die er modern-bewegt vorträgt – oder Ravels exzentrisch gespieltes Gaspard de la Nuit.
Die Edition ist sorgfältig aufbereitet. Sie enthält sämtliche Interpretationen, die der Pianist im Zeitraum 1981–1997 bei Deutsche Grammophon veröffentlicht hat. Auf den CD-Hüllen, die sich in einer elegant gestalteten, schwarzen Box befinden, sind die Cover der Ersterscheinung abgebildet, und der neu verfasste Begleitessay aus der Feder des Klavierspezialisten Gregor Willmes informiert eindringlich über das Frühwerk des Pianisten.