Der Internationale Chopin-Klavierwettbewerb in Warschau genießt in der Klassikwelt Kultstatus. Seit 1927 gibt es das prestigeträchtige Event, bei dem sich eine erlesene Schar von Pianistinnen und Pianisten vor einer hochkarätig besetzten Jury mit exquisiten Chopin-Interpretationen empfiehlt. Seit 1955 findet die Zusammenkunft alle fünf Jahre statt. 2020 musste sie pandemiebedingt abgesagt werden. Umso größer war die Begeisterung, dass der Wettbewerb in diesem Jahr wieder stattfinden konnte.
Vor der restlos ausverkauften Nationalphilharmonie Warschau sammelten sich beim Finale zahllose Menschen, die Einlass begehrten und mit Plakaten um übriggebliebene Karten konkurrierten. Vor dem Fernseher, am Radio und im Internet verfolgte ein Millionenpublikum das Ereignis. 87 Pianisten, die aus über 500 Bewerbern ausgewählt wurden, traten zu dem Wettbewerb an, als dessen Sieger in der Nacht vom 20. auf den 21. Oktober 2021 der kanadische Pianist Bruce Liu ausgerufen wurde.
Der 24-jährige Klaviervirtuose reiht sich damit in die Riege der größten Pianistinnen und Pianisten des 20. und frühen 21. Jahrhunderts ein. Der Sieg beim Chopin-Wettbewerb, in dessen Jury schon Größen wie Maurice Ravel, Nadia Boulanger oder Artur Rubinstein saßen, verband sich fast immer mit einer Weltkarriere. Namen wie Martha Argerich, Maurizio Pollini oder Krystian Zimerman sind ein beredtes Zeugnis hierfür. Bei jüngeren Preisträgern wie Rafał Blechacz oder Seong-Jin Cho deuten die Zeichen in eine ähnliche Richtung.
Wie schon bei den vergangenen Wettbewerben ist das Gelblabel auch in diesem Jahr wieder als Partner dabei um den Gewinner mit einer Veröffentlichung zu würdigen. Dass es sich gelohnt hat, zeigt das gerade erschienene Live-Album von Bruce Liu, das die Deutsche Grammophon gemeinsam mit dem Organisator des Wettbewerbs, dem Fryderyk Chopin Institute in Warschau, produziert hat. Der junge Pianist offenbart eine musikalische Klasse, die in ihrer Mischung aus virtuoser Frühreife und emotionaler Spontaneität einzigartig ist.
Bruce Liu, der 1998 in Paris zur Welt kam und in Kanada aufwuchs, definiert musikalische Eleganz neu. Den etwas zu glatten Stil vieler Chopin-Interpreten des 21. Jahrhunderts durchkreuzt er mit einer delikaten Verspieltheit, die den sinnlichen Aspekt von Chopins Musik ins Bewusstsein zurückruft.
Mit Etüden, Mazurken, einem Walzer, einem Scherzo, dem Andante spianato et Grande polonaise brillante sowie den Variationen über “Là ci darem la mano” aus Mozarts “Don Giovanni” zeigt das Album ein breites Spektrum von Chopins Wirken auf. Bruce Liu beherrscht sie alle, brilliert aber vor allem dann, wenn er sich, wie im Scherzo Nr. 4 in E-Dur op. 54 oder in der Grande polonaise brillante in Es-Dur op. 22, träumerisch gehen lassen kann. Imponierend in all seinen Darbietungen ist die kristallin hervortretende Struktur von Chopins Harmonien. Dadurch kommt die visionäre Modernität des polnischen Romantikers in den erstaunlichsten Formen zum Vorschein.