Es ist nicht zu hoch gegriffen, bei Bruce Liu von einem neuen Stern am Pianistenhimmel zu sprechen. 2021 gewann der Künstler den renommierten Chopin-Wettbewerb und errang als erster Kanadier in der langen Geschichte der prestigeträchtigen Veranstaltung den ersten Preis. Sein darauffolgendes Debut bei Deutsche Grammophon mit Live-Aufnahmen aus verschiedenen Phasen des Chopin-Wettbewerbs wurde international gefeiert, ebenso verschiedene e-Singles, die Liu seither veröffentlicht hat. Nun knüpft der Musiker daran an und bringt beim gelben Label seine Interpretation der Französischen Suite Nr. 5 von Johann Sebastian Bach heraus, die ab dem 14. April als Stream und als Download verfügbar ist.
Bruce Liu ist ein Künstler, in dessen Biografie und Schaffen eindrucksvoll die verschiedensten Einflüsse zusammenfließen. Am 8. Mai 1997 kam er als Sohn chinesischer Eltern in Paris zur Welt, zog im Alter von sechs Jahren mit seinem Vater nach Montreal, besuchte regelmäßig China und lernte fließend Mandarin. So ist ihm die europäische und nordamerikanische Kultur ebenso nahe wie die lange Tradition der chinesischen Kultur und sind es die vielen Facetten des individuellen Ausdrucks, die ihn faszinieren. “Uns alle verbindet, dass wir uns unterscheiden”, sagt Bruce Liu, und er selbst schöpft viel Kreativität aus dieser Erkenntnis. Seine musikalische Entwicklung geht damit einher: Zwischen 2011 und 2018 studierte Liu bei Richard Raymond am Québecer Konservatorium für Musik, im Alter von nur 15 Jahren gewann er den Wettbewerb des Orchestre symphonique de Montréal. Im Oktober 2021 folgte schließlich der Sieg beim Internationalen Chopin-Klavierwettbewerb, bei dem Lius Poesie und Virtuosität gleichermaßen gelobt wurden. Seither begeistert er in seinen ausverkauften Konzerten ein weltweites Publikum.
Die “Französischen Suiten” von Johann Sebastian Bach sind einnehmende und farbenreiche Meisterwerke des Barockkomponisten, die er in den frühen 1720er Jahren im Alter von 30 Jahren ursprünglich für Unterrichtszwecke in seinem eigenen privaten Kreis schuf. In ihrer ersten Form erschienen die ersten fünf Suiten in einem kleinen Notenbuch, das Bach 1722 für seine zweite Frau Anna Magdalena zusammenstellte, möglicherweise als Hochzeitsgeschenk. Erst später wurde die Sammlung unter dem Titel “Französische Suiten” bekannt. Die Bezeichnung ist allerdings irreführend, so beinhaltet jedes der Werke verschiedene Sätze, die von Tänzen aus verschiedenen nationalen Traditionen inspiriert wurden.
Die fünfte der Französischen Suiten, Nr. 5 in G-Dur, BWV 816, ist unter den verschiedenen Teilen des Opus die melodischste und eleganteste Suite und zieht mit stürmischer Energie, sanglicher Schönheit der Melodien und einer ausgesprochen hellen und sonnigen Grundhaltung in den Bann. Die tragende Tonart G-Dur vermittelt aus Sicht von Bruce Liu ein “Gefühl von lyrischer, poetischer Zärtlichkeit”, das er innig und dynamisch zum Leben erweckt. Als Tanzsätze enthält die Suite Nr. 5 eine deutsche Allemande, eine französische Courante, eine spanische Sarabande und eine irisch-schottische Gigue, deren jeweilige Charakteristik Liu eindrucksvoll ausgestaltet. So beweist er in den schnelleren Sätzen wie der Courante und der Gigue seine intuitive Gestaltungsgabe und seinen feinen Sinn für Energie und Präzision in der Artikulation. Die Sarabande wiederum erklingt in seinem Spiel edel und sensibel, während Liu die Rhythmen der Loure elegant phrasiert. So ergänzt der Ausnahmepianist seine erfolgreiche Einspielungsreihe um ein weiteres beeindruckendes Kleinod.