Immer wieder begegnen uns in der jüngeren Musikgeschichte außergewöhnliche Künstlerpersönlichkeiten, die eine Vielzahl musikalischer und außermusikalischer Fähigkeiten in sich vereinen. Wie etwa Camille Saint-Saëns, dessen Todestag sich gerade zum 100. Mal jährte und dessen Begabungen weit über den musikalischen Rahmen hinausgingen. Eine solche Persönlichkeit war auch der französische Komponist, Dirigent und Musiktheoretiker Pierre Boulez, der 1925 in Montbrison geboren wurde.
Seit den 50er Jahren ist die Entwicklung der Modernen Musik untrennbar mit diesem Namen verbunden. Nach seinem ersten Klavierunterricht und den Mathematikkursen für die Aufnahmeprüfung der Pariser École Polytechnique 1941 hatte Boulez am Pariser Konservatorium Unterricht bei Andrée Vaurabourg-Honegger, Olivier Messiaen und René Leibowitz genommen. Und schon ab den 50 Jahren bestimmte neben der Kompositions- und Lehrtätigkeit und vor allem das Dirigieren sein Leben. 1976 gründete er sein “Ensemble Intercontemporain”, mit dem er Zeit seines Lebens als Dirigent und Komponist verbunden war.
Nach ihren beiden Boulez-Editionen “Œuvres complètes” von 2013 und “Domaine musical” von 2015 veröffentlichte Deutsche Grammophone jetzt mit der Edition “Boulez – The Conductor”, eine 82-CD Original Jackets Collection, die erstmals alle Aufnahmen von Pierre Boulez als Dirigent bei Deutsche Grammophon und Decca enthält und damit das gewaltige musikalische Erbe dieses bedeutenden Komponisten, Schriftstellers und Dirigenten offenbart, der fast ein Vierteljahrhundert Exklusiv-Künstler beim Gelben Label war.
Die Dualität der künstlerischen Persönlichkeit Boulez‘ als Dirigent und Komponist in einer Person legt dessen vorrangige Ausrichtung auf die musikalische Moderne nahe. Weit gefehlt! Diese Box demonstriert eine ungeheure Spannbreite des Repertoires, das Pierre Boulez dirigierte. Natürlich enthält sie seine Aufnahmen der modernen Klassiker wie Edgar Varèse und Györgi Ligeti. Als Referenzaufnahmen der Zweiten Wiener Schule gelten etwa Arnold Schönbergs “Moses und Aaron” und die Einspielungen der Musik Anton Weberns, darunter die Cantatas Nr.1 und 2 mit den Berliner Philharmonikern, Christiane Oelze und Gerald Finley, oder die “5 Movements” op. 5 in der Version für Streichorchester. Kontrastreich dazu die von Webern orchestrierten 6 Deutschen Tänze Franz Schuberts.
Beeindruckend auch Boulez‘ intensive und zugleich kritische Auseinandersetzung mit dem Werk Béla Bartóks, den er neben Igor Stravinsky, Schönberg, Alban Berg und Anton Webern zwar zu den “Großen Fünf der Moderne” zählte, dessen musikalisches Formengefühl er aber zugleich eine größere Nähe zu Beethoven als etwa zu Schönberg bescheinigte. Ungeachtet dessen wurde die Musik Bartóks vor allem in seinen späteren Jahren zentraler Bestandteil des Repertoires von Pierre Boulez. Dessen Bartók-Aufnahmen für die Deutsche Grammophon bilden einen Schwerpunkt der Box. Sie entstanden überwiegend Anfang der Neunziger Jahre mit dem Chicago Symphony Orchestra. Diese und die Stravinsky-Produktionen von Pierre Boulez wurden mit Grammy-Awards ausgezeichnet.
Seinem Lehrer Olivier Messiaen verdankt Pierre Boulez das begeisterte Interesse für die Musik Maurice Ravels und Claude Debussys. Mit den Berliner Philharmonikern hatte er genau das richtige Orchester für das feinmaschige musikalische Gewebe etwa von Ravels “Ma mère l’oye”. Auch die Aufnahme von Claude Debussys “Prélude à l’après-midi d’un faune” mit dem Cleveland Orchestra sowie dessen “Images pour orchestre” unter Boulez‘ Leitung geraten geradezu zu Lehrstücken für die Interpretation der Musik des französischen Impressionismus.
Erst im Jahre 1979 entstand die erste vollständige Aufnahme von Alban Bergs Oper “Lulu”. Boulez dirigierte dafür das Orchestre de l’Opéra de Paris, Teresa Stratas sang die Titel-Partie. Eine enge Verbindung sah Pierre Boulez zwischen der Musik Alban Bergs und Gustav Mahlers. Und so umfasst die Edition denn auch einen kompletten Zyklus der Sinfonien Gustav Mahlers, ergänzt durch das “Lied von der Erde”, die Orchesterlieder “Des Knaben Wunderhorn”, die “Kindertotenliedern” und die Rückert-Lieder.
Einen wesentlichen inhaltlichen Akzent setzen die Aufnahmen der eigenen Werke Pierre Boulez‘, darunter die 1952 komponierten “Répons” für 6 Solisten, Ensemble und Live Electronics, die Boulez im Oktober 1981 beim für das Donaueschingen Festival uraufführte. Sein umfangreichstes Werk, das fünfsätzige “Pli selon pli – Portrait de Mallarmé” für Sopran und Orchester nahm Boulez 2001 mit der Sopranistin Christine Schäfer und dem Ensemble intercontemporain auf.
Last but not least: ganz zweifellos gerät die Inszenierung des legendären Bayreuther Jahrhundert-"Rings" von 1976 bis 1980 durch Pierre Boulez und Patrice Chéreau zu einem weiteren Höhepunkt dieser Box, zu erleben auf vier Blu-ray Discs in remasterter HD-Qualität. Die Box wird zudem durch lesenswerte Texte von Harald Strähner informativ sehr gut begleitet.
Der französische Pianist Pierre-Laurent Aimard schwärmt von der Klarheit Pierre Boulez‘ “als Ergebnis des Weglassens von Unnötigem” und hebt dessen Handwerk hervor, das großen Respekt vor der Partitur mit völliger Freiheit in Einklang bringe. “Sein auf das Wesentliche konzentrierte Dirigieren ist die Personifizierung der Ökonomie und die Auslöschung des Egos in der Verfolgung seines höchsten Ziels: der Musik zu dienen.”