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Mischa Maisky - Über den Horizont

09.05.2007

Es gibt Werke, die den Maßstab auf unabsehbare Zeit setzen. Johann Sebastian Bach hat einige davon geschrieben, allen voran die sechs Cello-Suiten, an denen sich bis heute Schüler und Weltklassemusiker gleichermaßen abarbeiten. Denn im Unterschied zu vielen anderen Kompositionen, deren Interpretation weitgehend festgelegt scheint, ist hier das Spektrum offen und fordert jeden Künstler dazu auf, seine  eigene Position zu finden. Mischa Maisky hat sich mit seiner berühmten Deutung auf das romantische Terrain begeben, in ferner Nachfolge von Meister Pablo Casals, und räumt dem Gefühl einen wichtigen Stellenwert im Kontext der Cello-Suiten ein. “Bach war ein ausgeprägter Romantiker”, meinte er in einem Interview. “Ich bitte sie – er hatte 20 Kinder. Ganz bestimmt wusste er gutes Essen, guten Wein und gutes Bier zu schätzen”. Und eine Spielweise, die bei allem Protestantismus den einzelnen Künstler nicht vergaß. Grund genug jedenfalls für Maisky, die Cello-Suiten mit reichlich Herzblut zu spielen – und darzustellen, wie die Edition seiner Aufnahmen auf DVD nun dokumentiert.

In der Autobiographie “Licht und Schatten” erinnerte sich Pablo Casals an die erste Begegnung mit den Cello-Suiten: “Eines Tages sagte ich meinem Vater, ich brauche unbedingt etwas Solistisches, das ich im Café Pajarera vortagen könnte. Gemeinsam machten wir uns auf die Suche. Aus zwei Gründen werde dich diesen Nachmittag mein Leben lang nicht vergessen. Erstens kaufte mir mein Vater das erste Cello in voller Mensur – was war ich stolz, ein solch wunderbares Instrument zu besitzen! -, und dann machten wir Halt vor einem Musikalien-Antiquariat in der Nähe des Hafens. Ich durchwühlte eben einen Stoß Musikalien, als mir plötzlich ein Bündel zerfledderter und stockfleckiger Notenblätter in die Hände fiel. Es waren die Solo-Suiten von Johann Sebastian Bach – Stücke für Cello allein! Ich schaute ziemlich fassungslos drein: Sechs Suiten für Violoncello solo? Welcher Zauber, welches Geheimnis verbarg sich hinter diesen Worten! Nie hatte ich von der Existenz dieser Suiten etwas gehört. Niemand – auch mein Lehrer nicht – hatte sie vor mir auch nur erwähnt. Ich vergaß, wozu wir eigentlich den Laden betreten hatten. Ich konnte nur noch auf die Notenblätter starren und sie streicheln […] Ich begann, sie mit unbeschreiblicher Erregung anzuspielen; sie wurden meine Lieblingsstücke. Ich studierte sie und arbeitete an ihnen die nächsten zwölf Jahre Tag für Tag. Jawohl, zwölf jahre sollten vergehen, ehe ich mit fünfundzwanzig den Mut aufbrachte, eine jener Suiten öffentlich im Konzert vorzutragen. Bis dahin hatte kein Geiger, kein Cellist jemals eine der Bachsuiten ungekürzt gespielt”.
 
Casals führte die Werke auf und seitdem haben sie tiefe Spuren in der Landschaft der Streichinstrumente hinterlassen. Seit seiner Beschäftigung mit den Bach-Suiten gehören die sechs Werke zum Standard jedes ambitionierten Cellisten und haben von Pierre Fournier bis Paolo Beschi sehr unterschiedliche Deutungen hervorgebracht. Maiskys Aufsehen erregender Beitrag zu diesem Konvolut der Interpretationen stammt aus dem Jahr 1986 und entstand in den historischen Räume der von Andrea Palladio im 16.Jahrhundert erbauten Villa Caldogno. Dabei nahm sich der lettische Cellist, der damals gerade auf dem Sprung an die Weltspitze stand, die Freiheit, die Werke aus sich heraus und der eigenen Eingebung folgend zu Interpretieren, natürlich auf der Basis der Vorlagen, aber weit genug davon entfernt, um bei manchem Puristen Kritik zu provozieren. Der Ansatz erscheint Maisky auch weiterhin mehr als legitim: “Ich glaube, wie die meisten großen Denker war auch Bach seiner Zeit weit voraus! Dass jemand am Ende des 20.Jahrhunderts versucht, sich in die Zeit vor 300 Jahren zurück zu versetzen, widerspräche vermutlich völlig Bachs Mentalität”. Und tatsächlich dokumentiert sich nicht nur über die Musik, sondern auch über die mit der DVD transportierten Bilder, was der Cellist mit seiner Vorstellung der individuellen Darstellung meint. Denn in faszinierender Einheit mit den Klängen und Melodien entwickelt er Bachs Suiten, als würden sie eben erst der Phantasie des Künstlers entspringen. Hier wird durch die Grenzenlosigkeit seiner Spieltechnik und die Intensität der Interpretation klar, warum Maisky bis heute zu den Koryphäen seines Fachs gehört. Und warum er mit einem schelmischen Unterton sagen kann: “Ich werde immer wieder gefragt, ob ich moderne Musik spiele, und ich antworte: ‘Ja, ich spiele Bach!’”.

Bach: 6 Suites for Solo Violoncello, BWV 1007-1012 0044007343371
BACH 6 Suites for Cello Maisky DVD-Video
2. Mai 2007

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