Mirga Gražinytė-Tyla ist zweifelsohne eine der spannendsten Künstlerinnen der Gegenwart und hat sich mit ihren brillanten Interpretationen längst einen Namen gemacht in der Dirigentenszene. Erst jüngst wurde ihr Album “Weinberg: Symphonies Nos 2 & 21” mit dem City of Birmingham Symphony Orchestra, Gidon Kremer und der Kremerata Baltica bei den Gramophone Classical Music Awards 2020 als “Album des Jahres” ausgezeichnet; gerade erhielt sie zudem den OPUS KLASSIK-Preis als “Dirigentin des Jahres”. Nun erscheint beim gelben Label ein weiteres Album der aufstrebenden litauischen Dirigentin mit dem Titel “The British Project”. Es spielt das City of Birmingham Symphony Orchestra, auf dem Programm steht Brittens “Sinfonia da Requiem”. Das digitale Album ist ab 16. Oktober erhältlich.
Benjamin Brittens “Sinfonia da Requiem” ist ein Werk mit außergewöhnlicher Entstehungsgeschichte. So wurde dieses epochale Stück 1939 von der japanischen Regierung für ein Konzert zur Feier des 2.600-jährigen Bestehens der japanischen Herrscherdynastie in Auftrag gegeben und von Britten als Opus für ein riesiges Orchester mit Saxophon, zwei Pauken- und zwei Klaviersätzen komponiert. Kurz nach ihrer Fertigstellung wurde die Sinfonie im folgenden Jahr jedoch abgelehnt, angeblich, weil der 26-jährige Komponist lateinische Titel aus der katholischen Totenmesse gewählt hatte. Die Uraufführung des Stücks fand schließlich 1941 in New York statt.
Mit seiner prägnanten Tonsprache und seinem düsteren Grundcharakter war das dreisätzige Werk wegweisend für Brittens “War Requiem” und fing eindringlich und packend die brüchige und bedrohliche Grundstimmung der damaligen Zeit ein. Bis heute fasziniert es als klingendes Abbild seiner Entstehungszeit und zieht kontrast- und emotionsreich in den Bann.
Im Zentrum des Albums “The British Project” steht nicht nur Brittens eindrucksvolles Werk, sondern auch die außergewöhnlich enge und fruchtbare Partnerschaft des City of Birmingham Symphony Orchestras und seiner Musikdirektorin Mirga Gražinytė-Tyla. Das Orchester, das sein hundertjährges Bestehen feiert, verbindet mit dem Werk Brittens eine ganz besondere Beziehung. So hat es nicht nur 1962 Brittens “War Requiem” uraufgeführt, sondern auch viele Male mit dem Komponisten persönlich zusammengearbeitet. “Wann immer das CBSO Britten spielt, spürt man ihre tiefe Zuneigung zu seiner Musik”, sagt Gražinytė-Tyla. Dabei zeige gerade die neue Aufnahme der Sinfonia, “wie sich Musiker in unserer unruhigen Welt so eng mit den Emotionen eines Stückes identifizieren, das geschrieben wurde, als Europa von Hitler und Stalin zerrissen wurde”. Gražinytė-Tyla selbst, die vor mittlerweile vier Jahren auf Andris Nelsons folgte, überzeugt am Pult mit ihrem ebenso leidenschaftlichen wie präzisen Dirigat und tritt bei der Ausdeutung von Brittens Sinfonie in einen engen Dialog mit dem Orchester.
Für Gražinytė-Tyla ist die “Sinfonia da Requiem” “eine Warnung vor Aggression und Hass”. Gleichzeitig biete das Stück aber auch “ein Gefühl des Trostes und der Hoffnung am Ende”. Damit sei die Kernbotschaft der Sinfonie von brennender Aktualität: “Ich denke, was sie uns zu sagen hat, ist heute genauso wichtig wie vor 80 Jahren”, so Gražinytė-Tyla. Diese eindringliche Botschaft spiegelt sich auch in ihrer Interpretation wieder, die mit großer Intensität und Dichte aufwartet. Fesselnd, kontrastreich und unmittelbar berührend wird die “Sinfonia da Requiem” so zu einem musikalischen Kommentar zur Gegenwart.