Singen ist Leidenschaft. Matthias Goerne hält es auch nicht anders, er singt mit Hingabe, natürlich. Mit dem kleinen Zusatz: Singen ist Nachdenken.
Typen, die ständig unter Strom stehen, sehen anders aus. Matthias Goerne macht eigentlich einen ganz gesammelten Eindruck: Kräftige Statur, sachlich-schwarzer Rollkragenpulli, Lederjacke, die Haare superkurz geschnitten – nach den Konzerten mischt er sich unter die Barbummler und zieht in Berlin, Hamburg, New York durch die Clubs. Doch vorher steht er auf der Bühne und singt Schuberts Balladen und Lieder von Hanns Eisler oder Bachs Christus- Kantate: “Ich habe genug”. Wie er es dabei aber anstellt, Töne ins Publikum zu schicken, die den ganzen Saal elektrisieren, das ist sein Geheimnis. Matthias Goerne sagt dazu nur: “Mit viel Gefühl allein kann man keine Lieder singen.” Aber Strom scheint in jedem Fall eine Rolle zu spielen. Elektrizität, die Goerne aus dem Mischungsverhältnis von Melodie und gesungenem Wort schlägt: “Ich möchte in die Interpretation etwas hineinbringen, das auffunkt.”
So ist es nicht allein sein hoher, leichter Bariton von überraschendem Umfang und stiller Kraft, der ihn schon vor Jahren an die Spitze der neuen Sängergeneration – neben Christoph Prégardien, Thomas Quasthoff und Wolfgang Holzmair – katapultierte. Dazu gehört auch seine erstaunliche Fähigkeit, ein Lied bis in die letzten Nuancen von Text und Musik auszudeuten, die viele an Dietrich Fischer-Dieskau denken lässt. Und das kommt nicht von ungefähr: Nach seinem Studium bei Hans-Joachim Beyer an der Musikhochschule Leipzig holte sich Matthias Goerne den Feinschliff bei dem großen Liedsänger in Berlin: “Fischer-Dieskau unterrichtete mich viele Jahre auf einem Niveau, das weit über dem von Meisterkursen lag. Das hat mich enorm motiviert und von dem intensiven persönlichen Kontakt zu ihm profitiere ich heute noch.”
Doch für sein breites Repertoireinteresse, das sich auch in einer umfangreichen Diskographie niederschlug, brauchte Matthias Goerne nicht erst Dietrich Fischer-Dieskau zum Vorbild. Sein musikalisches Spektrum reicht von Bachoratorien und Mozartarien über Wagner bis zu den Opern der klassischen Moderne – ein Programm, das vielen anderen widersprüchlich erscheint. Für ihn ist es anziehend und spannungsvoll. Das beste Beispiel gibt er mit seinem neuesten Solo-Album. “Arias” ist Goernes CD-Premiere mit reinem Opernprogramm. Der Sänger spricht davon, dass er für die neue Aufnahme große romantische Arien zusammengestellt hat, grinst, zählt dann auf: “Mozart, Wagner, Humperdinck, Richard Strauss”, atmet aus, grinst wieder, “Erich Wolfgang Korngold und zweimal ‘Wozzeck’ von Alban Berg.” Unter der Leitung des jungen Wiener Dirigenten Manfred Honeck und begleitet vom Schwedischen Rundfunksymphonieorchester geht Matthias Goerne ans Stromnetz: Vorsicht vor dem “schwarzen Mann”!