Unter Kennern gilt Hans Rott als verkanntes Genie der Spätromantik. Der österreichische Komponist war einer der wichtigsten Schüler Anton Bruckners, der ihm eine große Zukunft voraussagte. Doch das Schicksal meinte es nicht gut mit dem hochbegabten Tonschöpfer, dessen visionäre Klänge am Wiener Konservatorium seiner Zeit Befremden auslösten. Unter der Zurückweisung von Johannes Brahms litt Rott schließlich so stark, dass sie ihm den Rest gab und er an ihr zerbrach.
Rotts Kommilitone Gustav Mahler, der später als Begründer einer neuen Sinfonik an der Schwelle zur Moderne Berühmtheit erlangte, wusste um die Größe des eigenwilligen Klangpoeten. Er soll gegenüber der Bratschistin Natalie Bauer-Lechner über Rott gesagt haben: “Was die Musik an ihm verloren hat, ist gar nicht zu ermessen; zu solchem Fluge erhebt sich sein Genius schon in dieser Ersten Symphonie, die er als zwanzigjähriger Jüngling schrieb und die ihn – es ist nicht zu viel gesagt – zum Begründer der neuen Symphonie macht, wie ich sie verstehe.”
Hans Rott, der 1884 bereits im Alter von 25 Jahren starb, komponierte seine erste Sinfonie in den Jahren 1878 bis 1880. Über 100 Jahre vergingen, bis sich die Möglichkeit eröffnete, den hohen musikalischen Rang dieses Werks zu ermessen. In den 1980er Jahren entdeckte Paul Banks in der Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek die Partitur von Rotts erster Sinfonie. Der britische Musikwissenschaftler witterte das Potenzial der Komposition, bearbeitete die Partitur und machte sich für eine Aufführung stark. 1989 wurde die Sinfonie in Cincinnati/Ohio vom dortigen Cincinnati Philharmonia Orchestra uraufgeführt.
Seither ist der Komponist in der Musikwelt kein Unbekannter mehr. Doch ist die Aufmerksamkeit, die sein Werk bislang erfährt, noch weit davon entfernt, seiner künstlerischen Größe gerecht zu werden. Das könnte sich jetzt ändern. Mit dem neuen Album des tschechischen Dirigenten Jakub Hrůša und seiner Bamberger Symphoniker rückt erstmals der frappierend moderne Klangzauber von Rotts Sinfonie Nr. 1 in E-Dur ins Blickfeld.
Rotts erste Sinfonie hat eine seltsam schwebende Gestalt. Sie wirkt wie eine verheißungsvolle, ins Rauschhafte gesteigerte Wanderschaft in bislang noch unentdeckte Gefilde. Die großzügigen Gesten, die bebenden Klänge und die feinfühlige Melodik erinnern an Gustav Mahler. Doch Rott schuf das Werk, bevor Mahler mit seinem sinfonischen Erstling begonnen hatte. Jakub Hrůša, der seit der Saison 2016/2017 als Chefdirigent bei den Bamberger Symphonikern amtiert und bei Internetrecherchen auf Rotts Sinfonie stieß, hat mit seinem Orchester einen warmen, farbenfrohen und dynamischen Klang entwickelt. Damit trifft bei er bei Rott, der eine Vorliebe für breitflächige Klanglandschaften und komplexe Harmonien hegt, ins Schwarze.
Hrůšas Album erscheint in einer Co-Produktion von Deutsche Grammophon und BR-Klassik. Neben Rotts erster Sinfonie enthält es mit Bruckners schwelgerischem Symphonischen Präludium in c-Moll (WAB 297) und Mahlers gefühlvollem “Blumine”-Satz weitere grandiose Raritäten, die dem musikalischen Gestus von Hans Rott ähneln und den schöpferischen Eigensinn der Spätromantik lebhaft spürbar machen.