Ostern gilt als Zeit des Übergangs. Der Frühling streckt seine Fühler aus. Die kurzen Wintertage rücken ferner. Empfindungen der Weite, der neu gewonnenen Lebenslust keimen auf. In diesem Frühjahr mischen sich freilich mulmige Gefühle in die Aufbruchstimmung. Im Zeichen der Coronakrise atmet kaum jemand so richtig frei. Wer indes offen für Musik ist und sich durch klangliche Eindrücke verwandeln lässt, der kann gerade jetzt, in einer Zeit der erzwungenen Enge, befreiende Momente erleben. Aus spiritueller Sicht ist die Osterzeit ohnehin von starken emotionalen Kontrasten geprägt. Christen feiern den Tod und die Auferstehung Jesu Christi. Dabei liegen tiefste Trauer und größte Freude nah beieinander. Diese Gefühlsdichte hat Komponisten seit jeher fasziniert, und so überrascht es nicht, dass es ganze Kosmen ergreifender österlicher Musik gibt.
Doch wo fängt man an? Am besten bei Bach. Der barocke Altmeister hat geistliche Werke von so berührender Intensität geschaffen, dass selbst nicht-religiöse Menschen, die der christlichen Botschaft nicht folgen wollen, sich immer wieder daran aufrichten. Der Klassiker zu Karfreitag ist zweifellos die Matthäus-Passion, eine der überwältigendsten Kompositionen von Johann Sebastian Bach. Die imposanten Chöre, der dramatische Bericht des Evangelisten und die ergreifenden Arien des Oratoriums verfolgen den Leidensweg Jesu Christi. Obwohl der Inhalt schmerzvoll ist, verströmt die Matthäus-Passion eine versöhnliche Stimmung. “Botschaft eines starken Trostes, Verheißung einer tiefen Geborgenheit”, kleidete der Schriftsteller Albrecht Goes die Wirkung des monumentalen Werkes in Worte.
Musikalisch ist die Matthäus-Passion im Laufe der Zeit höchst unterschiedlich aufgefasst worden. Seit ihrer Wiederentdeckung im 19. Jahrhundert waren Kolossalbesetzungen mit riesigen Chören beliebt. Im 20. Jahrhundert verkleinerte sich die Anzahl der Mitwirkenden. Die Transparenz der harmonischen Feinheiten geriet ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Die Tempi zogen an.
Wer noch ferne Anklänge an die große romantische Tradition erleben möchte, der sei auf die ergreifende Interpretation von Karl Richter aus dem Jahre 1958 verwiesen. Die Aufnahme mit dem damals noch jungen Münchener Bach-Chor ist von überwältigender Dramatik und Expressivität. Solistisch bewähren sich Sängerstars wie Irmgard Seefried, Dietrich Fischer-Dieskau oder Ernst Haefliger als glänzende Interpreten von Bachs geistlichem Meisterwerk.
Im Vergleich zu spätromantischen Interpreten der Matthäus-Passion hatte Karl Richter die Tempi schon deutlich erhöht und für mehr Dynamik gesorgt. Die historische Aufführungspraxis ging auf diesem Gebiet jedoch noch wesentlich weiter. Beispielhaft hierfür ist die packende Aufnahme von John Eliot Gardiner aus dem Jahre 1988. Der preisgekrönte Dirigent, einer der größten Bach-Interpreten der Gegenwart, setzte mit seiner schwungvollen Einspielung Maßstäbe. Die Virtuosität, Lockerheit und klangliche Finesse der English Baroque Soloists brachte Bachs komplexe Harmonien in unendlich vielen Farbschattierungen zum Vorschein. Der Monteverdi Choir verlieh der Matthäus-Passion mit seinem dynamischen Gesang soghafte Wirkung.
Umso erfreulicher, dass just diese Einspielung jetzt eine Neuauflage erfährt. Gardiners Matthäus-Passion erscheint erstmals seit ihrer Veröffentlichung im Jahre 1989 im LP-Format, klassisch gepresst auf 180g Vinyl. Um die bereits bei der Ersterscheinung hochgelobte Klangqualität der legendären Archiv Produktion zu verfeinern, überschreitet keine der sechs LP-Seiten eine Länge von dreißig Minuten. Der Klanggenuss besaß bei der Neuedition Vorrang vor einer allzu dogmatischen Abbildung des Originals. Letztlich heißt dies aber nur, dass die Gesamtaufnahme anders auf die drei Platten der Neuausgabe verteilt ist als im Original.
Wer ein Faible für italienische Musik besitzt, dem seien last but not least zwei österliche Kostbarkeiten ans Herz gelegt, die in spirituelle Tiefen der Renaissance eintauchen. Der britische Dirigent Paul McCreesh, bekannt für seine Pionierleistungen auf dem Feld der Alten Musik, hat in den 1990er Jahren mit seinem Ensemble Gabrieli Consort & Players eine venezianische Ostermesse rekonstruiert. Das daraus entstandene Album enthält neben einigen Instrumentalstücken feierliche Vokalmusik zum Ostersonntag: Highlights früher Polyphonie, wie sie die Venezianer um 1600 wahrscheinlich wirklich im Markusdom erlebten. Das Zentrum der Veröffentlichung bilden Arbeiten von Andrea Gabrieli und Orlando di Lasso. Die Aufnahmen fanden in der für ihre weite Akustik bekannten Kathedrale von Ely in Cambridgeshire statt. Der ca. sieben Sekunden andauernde Nachhall der Kirche erzeugt eine Stimmung von erhabener Spiritualität.
Von dem bedeutenden Organisten und Dirigenten Simon Preston stammt schließlich ein wegweisendes Album mit Palestrinas berühmter “Missa Papae Marcelli” und Allegris nicht minder bekanntem “Miserere”. Zur Erinnerung: Allegris “Miserere” soll den jungen Mozart so stark inspiriert haben, dass er die Noten aus dem Gedächtnis heraus zu Papier brachte. Er muss das Werk im Jahre 1770 in der Sixtinischen Kapelle gehört haben. Der Vatikan hielt die Partitur damals unter Beschluss. Das überragende Chorwerk, das den vierzehnjährigen Genius so heftig in Bann schlug, vermag auch heute noch unmittelbar zu berühren. Die feinfühlige Aufnahme von Simon Preston mit dem altehrwürdigen Choir of Westminster Abbey bietet hierfür die beste Grundlage.