Der Russe Sergej Prokofiew ist wohl solch ein Komponist, dem man sich stellen muss, dessen musikalische Schönheit und Tiefe in seinen Werken sich erschließt, wenn man ihm durch seine urwüchsigen Ausbrüche, rhythmisch vertrackten Muster, atonalen Intermezzi und zarten Lyrismen hindurch mittels einfachem Zuhören nahekommt. Vor ziemlich genau hundert Jahren, als sein zweites Klavierkonzert uraufgeführt wurde (wie das erste noch zu Konservatoriumszeiten entstanden), rief Prokofiew damit beim Publikum einen Skandal hervor. Als barbarisch und wild empfand man die “Skythische Suite”, als sie 1916 im Mariinsky zum ersten Mal erklang.
“In meinem Suchen war ich unweigerlich auf eine neue Einfachheit aus”, schrieb Prokofiew in der Rückschau über sein fünftes und letztes Klavierkonzert aus dem Jahr 1932, “und hierbei zeigte sich, dass diese neue Einfachheit wegen ihrer neuen Formen und hauptsächlich ihres neuen tonalen Aufbaus wegen nicht verstanden wurde. Aber ich gab die Hoffnung nicht auf, dass sie sich trotzdem mit der Zeit als einfach erweisen würden, wenn sich diese Bildungen als Tonsprache eingebürgert haben werden.” Haben sie sich eingebürgert? Wahrscheinlich empfinden wir sie heute als sehr viel milder.
Und sehr wahrscheinlich müssen es mit Valery Gergiev und dem Orchester des Mariinsky-Theaters St. Petersburg einer der profiliertesten russische Dirigenten sowie eines der traditionsreichsten Ensembles des Landes sein, um diese avancierte “Einfachheit” in der Dortmunder Zeitinsel anschaulich zu machen. Schon 2008 feierte das KONZERTHAUS DORTMUND das 225-jährige Bestehen des Mariinsky-Theaters unter Gergievs Leitung, des wegen seiner Nähe zur politischen Macht immer wieder in den Schlagzeilen befindlichen Intendanten, der designierter Chefdirigent der Münchner Philharmoniker ab 2015 ist.
Der Schüler Rimsky-Korsakows am Peterburger Konservatorium fand sich mit seiner exzentrischen Tonsprache heftigen Angriffen ausgesetzt und ging nach der Oktoberrevolution 1918 in die USA, wo er jedoch nie recht Fuß fassen konnte. Paris wurde ihm seit 1920 zur Heimat. Hier machten ihm die neuen Kompositionen von Poulenc, Honegger und Ravel deutlich, dass er im Vergleich einen vermeintlich immer noch konservativen Musikstil pflegte. Von neoklassizistischem Geist voller Leichtigkeit und Eleganz ist das 1921 in Frankreich beendete dritte Klavierkonzert.
Eine Sonderstellung nimmt das vierte ein: Für den Auftraggeber Paul Wittgenstein geschrieben, der im Ersten Weltkrieg den rechten Arm verloren hatte, quittierte dieser es mit Unverständnis: “Ich danke Ihnen für das Konzert, aber ich verstehe keine einzige Note und werde es niemals spielen!” Tatsächlich steht Prokofiews kammermusikalisches Werk würdig etwa neben dem Klavierkonzert “für die linke Hand” von Maurice Ravel. Zu einem Klassiker wurde das fünfte Konzert, das der Virtuose Prokofiew unter Wilhelm Furtwängler mit den Berliner Philharmonikern uraufführte. In fünf kontrastreichen Sätzen leitet es den Spätstil des Komponisten ein.
Der Spätstil manifestierte sich dann spätestens mit Prokofiews Rückkehr in die Sowjetunion 1936, die schlicht durch Heimweh motiviert war. Hier sah er sich, ähnlich wie Schostakowitsch, mit dem ästhetischen Leitbild des “sozialistischen Realismus” konfrontiert. Und in der Tat verstand er den Auftrag an einen Komponisten als einen gesellschaftspolitisch-relevanten Beitrag, sein Stil wandelte sich zum Einfachen, Volkstümlichen, Tonalen, ließ aber dennoch nichts von einer fortschrittlichen Kunstauffassung vermissen. Vor diesem Hintergrund ist Prokofiews Zusammenarbeit mit dem Filmregisseur Sergej Eisenstein zu verstehen. “Alexander Newski” zählt zu den anerkannten Welterfolgen des Genres. Weniger bekannt ist seine Filmmusik zu “Iwan der Schreckliche”. Der erste Teil der historischen Chronik erschien im Januar 1945, der zweite Ende des Jahres. Stalin missbilligte die Darstellung seiner eigenen Identifikationsfigur, des Zaren. So blieb der dritte Teil unvollendet – Eisenstein starb 1948.
Mit seiner Oper “Die Liebe zu den drei Orangen” ist Prokofiew auf den Bühnen regelmäßig präsent. Eine Rarität bedeutet hingegen “Die Verlobung im Kloster”, 1940/41 entstanden, die einmal mehr das skurril-humorvolle Talent Prokofiews unter Beweis stellt. Das Werk in vier Akten nach dem Lustspiel “Die Dueña” des anglo-irischen Dramatikers und Mozart-Zeitgenossen Richard Brinsley Sheridan, von Prokofiew selbst und seiner späteren Frau Mira Mendelssohn bearbeitet, ist im Untertitel “lyrisch-komische Oper” benannt. Eine Verwechslungskomödie zeichnet sich ab, von der neoklassizistischen Musik geistreich und pointiert auf die verschiedenen Personen bezogen begleitet: In Sevilla wirbt Don Jerome beim Fischer Mendoza um dessen schöne Tochter Luisa. Doch am Ende ist die Pärchen-Konstellation eine ganz andere als von Jerome vorgesehen.
Sergej Sergejewitsch Prokofiew starb am 5. März 1953, am gleichen Tag wie der Genosse Stalin. Sein Tod ging vor lauter Staatstrauer fast unter. Das Grab soll nicht einmal mit Blumen geschmückt gewesen sein. Zeit, sich an den großen russischen Komponisten zu erinnern.
Do 30.10.2014 · 19.00 · Die Klavierkonzerte
Orchester des Mariinsky-Theaters St. Petersburg · Valery Gergiev Dirigent · Alexei Volodin, Denis Kozhukhin, Behzod Abduraimov, Sergei Babayan Klavier
Sergej Prokofiew: Klavierkonzerte Nr. 1 – 5
Fr 31.10.2014 · 19.00 · Die Verlobung im Kloster
Solisten, Chor und Orchester des Mariinsky-Theaters St. Petersburg · Valery Gergiev Dirigent
Sergej Prokofiew: “Die Verlobung im Kloster” Oper in vier Akten op. 86 (konzertante Aufführung)
Sa 01.11.2014 · 20.00 · Iwan der Schreckliche
Solisten, Chor und Orchester des Mariinsky-Theaters St. Petersburg · Valery Gergiev Dirigent
Sergej Prokofiew: Ballettmusik zu “Cinderella” op. 87 (Auszüge) · “Iwan der Schreckliche” Oratorium op. 116