Frühaufnahmen großer Solisten haben ihren eigenen Charme. Oft klingen sie ungeschützter, naiver als spätere Einspielungen.
Eine junge Künstlerin kennt noch nicht alle Tricks und Kniffe ihres Instruments. Sie lernt noch dazu. Ihr Spiel gewinnt im Laufe ihres Lebens noch an Reife. Dafür zehrt sie von ihrer Leidenschaft, ihrer Energie, die sich unmittelbar Ausdruck verschafft, die raus muss. Das war auch bei Martha Argerich nicht anders. Und doch trifft dieser Gegensatz auf die schillernde Argentinierin nur bedingt zu. Martha Argerich lässt sich nicht in ein Schema zwingen.
Sie verdankt ihren Ruf als Löwin am Klavier und Ikone leidenschaftlich-bewegten Klavierspiels nicht allein ihren jungen und mittleren Jahren. Der ungezähmte Enthusiasmus ist ein Kennzeichen ihrer Interpretationskunst, die auch mit fortschreitendem Alter nichts von ihrer furiosen Energie eingebüßt hat. Wie steht es dann mit ihren frühen Aufnahmen? Geht es in ihnen noch heftiger zu? Ja und nein. Die junge Argerich besticht vor allem durch ihre Flexibilität, ihre ungeheure Spannbreite an Ausdrucksmöglichkeiten.
Ihr soeben erschienenes Doppelalbum ist ein eindrucksvolles Zeugnis hierfür. “Martha Argerich – Early Recordings” versammelt Aufnahmen, die die argentinische Meisterpianistin in den Jahren 1960 und 1967 für den NDR und WDR tätigte. Das Doppelalbum ist eine Jubiläumsgabe. Es erscheint im Vorausblick auf den 75. Geburtstag der Pianistin. Man mag es kaum glauben. Martha Argerich wird 75 Jahre alt! Woher nimmt diese Grande Dame der Klassikwelt ihre Energie?
Genauso ungläubig sitzt man vor dem neuen Doppelalbum und fragt sich: Woher nimmt diese junge Frau, die bei den frühesten Aufnahmen erst 18 Jahre alt war, ihre Reife? Man kann darüber nur staunen. Martha Argerich legt eine spielerische Lockerheit an den Tag, die mitreißend ist. Das bewährt sich vor allem in Mozarts Klaviersonate Nr. 18 in D-Dur, die sie mit freudvoller Leichtigkeit interpretiert. Die Läufe der Klaviersonate lässt sie sanft perlen. Zugleich bringt sie jeden einzelnen Ton glasklar zur Geltung.
Unbekümmert schmiegt sie sich der tänzerischen Verve des Wiener Klassikers an, die ihrem leidenschaftlichen Temperament entgegenkommt. Beethovens Klaviersonate Nr. 7 in D-Dur versprüht auch diese tänzerische Energie, und Argerich kostet sie genauso freudvoll aus wie bei Mozart. Im Largo e mesto kommt dann aber eine andere Facette ihres Spiel zum Vorschein: gravitätische, schwermütige Poesie. Tief dringt sie in die wehmütigen Stimmungen Ludwig van Beethovens ein.
Die zweite CD des Doppelalbums zeigt Martha Argerich von ihrer modernen Seite. Die kräftige, urban anmutende Rhythmik von Prokofieffs berühmter Toccata (op. 11) bringt sie energisch zur Geltung. Bilder früher Industriemetropolen ziehen an einem vorbei. Unwillkürlich denkt man an die Anfänge der industriellen Moderne. Auch die Werke von Ravel verströmen diese flirrende Atmosphäre, die Martha Argerich in Gaspard de la Nuit prächtig entfaltet.
Dabei unterschlägt sie nie den zarten, überaus verletzlichen Ton von Ravel, wie sie auch in Prokofieffs wilder Klaviersonate Nr. 7 in B-Dur die poetischen Stellen stets behutsam birgt. Die frühen Aufnahmen Martha Argerichs, die hier erstmals der Öffentlichkeit übergeben werden, sind ein reichhaltiger Schatz. Man merkt ihnen durchaus den jugendlichen Furor an. Zugleich zeigt das Album aber, dass Martha Argerich eine frühvollendete Meisterin war. Ihr Spiel ist einfach perfekt.