Wie schwer sich Franz Schubert daran abarbeitete, aus dem Schatten Ludwig van Beethovens zu treten, zeigen vor allem seine Bemühungen auf dem Gebiet der Klaviersonate. Schubert, der im Gegensatz zu Mozart und Beethoven kein Klaviervirtuose war, wurde von den Zeitgenossen zwar für seine Liedkompositionen geachtet. Jedoch bedachte man seine Klaviersonaten mit Geringschätzung, sah man in ihnen doch nur mangelhafte Versuche, dem Vorbild Beethovens nachzueifern. Fast ebenso viele Fragmente wie vollendete Werke hinterließ Schubert auf seiner Suche nach einer eigenen Sprache innerhalb der von ihm stets respektierten klassischen Sonatenform, als deren Vollender Beethoven galt, bis zum Jahr 1823. Erst spät begann er, seine Sonaten für den Druck freizugeben.
Im „Wundergarten des ‚Romantikers‘“
Nach einer zweijährigen Unterbrechung seines Sonatenschaffens läutete die Arbeit an der Sonate Nr. 15 C-Dur D840 jedoch das fruchtbare Klavierjahr 1825 ein. Innerhalb weniger Monate entstanden in der Folge auch die Sonaten D845 und D850. Offenbar verfügte Franz Schubert nun über genügend Selbstbewusstsein, um einen Vergleich auf höchster Ebene herauszufordern. Seine Sonate Nr. 16 a-Moll (D845) widmete er dem Erzherzog Rudolf, Kardinal Erzbischof von Olmütz, Beethovens bedeutendstem Förderer. Sie erschien 1826 im Druck als „Première Grande Sonate“ und wurde von der Leipziger Allgemeinen Zeitung begeistert besprochen: Trotz mancher „Wunderlichkeit“ sei das Werk auf eine Stufe mit den „größten und freiesten Sonaten“ Beethovens zu stellen. „Unter Beibehaltung der Grenzen“, schreibt Schubert-Biograph Hans Költzsch, schaffe sich hier „doch die neue Gesinnung ein Land, besser einen Garten voller unzähliger Wunderbauten, duftender Blüten und verschwiegener Ecken. Dies ist der Wundergarten des ‚Romantikers‘!“
“Überzeitlicher Schöpferwille”
Im Zyklus der Klaviersonaten D958–960, der 1828, wenige Monate vor dem Tod des Komponisten entstand, fand Schuberts Sonatenschaffen ihren krönenden Abschluss. Költzsch erkennt in der Trias „von überzeitlichem Schöpferwillen getragene Werke“, die nach den jugendlichen Experimenten und dem vorübergehenden Sichlösen von der Tradition während der Reifejahre einen konzentrierteren und ernsteren Ausdruck zeigen. Unter den Sonaten des Todesjahres ist die letzte, Nr. 21 in B-Dur (D960), das gewichtigste und meist gespielte Werk. Die Komposition durchmisst „himmlische Längen“, wie sie Robert Schumann an Schuberts C-Dur-Symphonie bewunderte. Allein der erste Satz erstreckt sich über etwa 20 Minuten Spielzeit. Die Sonate ist bestimmt von einem lyrischen Fließen des thematischen Materials. Zahlreiche stille und bedächtige Momente durchziehen das Werk.
Maria João Pires spielt D845 und D960
„Wenn man sich als Interpret einem Werk nähert, kann man geneigt sein, sich das Stück zu greifen und auf eigene Art und Weise zu interpretieren”, erklärt Maria João Pires. „Oder man kann im Gegenteil genau darauf verzichten, das Stück so lassen, wie es ist, und es einfach kennenlernen.“ Nach ihren Einspielungen der Klaviersonate D784, der Moments musicaux D780 und der Impromptus D899 und D935 erscheint nun die neue Schubert-Aufnahme der gefeierten portugiesischen Pianistin mit den Sonaten D845 und D960 auf Deutsche Grammophon. The Guardian lobt besonders ihre Interpretation der B-Dur-Sonate für „die Geduld, mit der Pires Schuberts Musik erlaubt, sich so natürlich zu entfalten, dass nichts forciert oder gekünstelt erscheint.“