Ist die Realität etwas rein Persönliches, sozusagen Privatsache? Im Zeitalter der digitalen Parallelgesellschaften meinen immer mehr Menschen, dass es keine andere – beweisbare – Wirklichkeit gebe als die des eigenen Kopfkinos. Der Fachbegriff für dieses immer populärere Weltbild ist Solipsismus (lat. sōlus: “allein” und ipse: “selbst”). Oder existiert doch (noch) ein ganz realer Raum, in dem wir uns alle treffen? Das meint der niederländische Musiker Joep Beving.
Mit seinem in Eigenregie veröffentlichten Debütalbum “Solipsism” traf er einen Nerv. Der 41-jährige Pianist aus Amsterdam, der tagsüber in einer Werbeagentur arbeitete, nahm zuhause, nachts und am Wochenende, mehr aus Spaß und Neugier eine Reihe eigener Klavierstücke auf, ließ davon eine Handvoll Vinyle pressen und veröffentlichte die Musik auf dem Streaming-Portal Spotify. Er hätte nie gedacht, dass seine atmosphärischen, getragenen, melancholischen und stimmungsvollen Kompositionen über 80 Millionen Mal gestreamt-, in zahlreiche Top-Playlisten und in die Top−30 der holländischen Albumcharts einziehen würden. In einer Berliner Bar hörte Christian Badzura, Executive Producer der Deutschen Grammophon das Album. Ein Agentur-Kollege Bevings hatte dem Barmann eine Vinylkopie mitgebracht. “Ich war wie hypnotisiert”, erinnerte sich Badzura im Interview mit dem Guardian, “die Musik verwandelte den ganzen Raum”. Umgehend kontaktierte er Beving und brachte ihn zum gelben Label. Im April ist dort Bevings zweites Album “Prehension” erschienen. Nach dem digitalen Siegeszug seines Debüts kommt “Solipsism” nun auch auf CD und dickem Vinyl in den Handel.
Beving wird heute in einem Atemzug mit den etablierten Komponisten Max Richter und Nils Frahm genannt. Seinen Job hat er aufgegeben. 2018 wird er im Großen Saal der Elbphilharmonie zu erleben sein. Der Presse gegenüber beschrieb er seinen jüngsten Werdegang als “sehr surreal”. Wie kam er darauf, sein Album “Solipsism” zu nennen? Er sehe seine Musik als “Experiment existentieller Kommunikation, als Glauben an eine absolute Ästhetik” und er wolle beweisen, “dass es doch eine universelle Realität gebe”, erklärte Beving.
Jetzt mal ohne Theorie: Wie bekommt Beving das hin, dass so viele beim Anhören von “Solipsism” komplett mit der Musik verschmelzen? Schon bei “Midwaver”, dem ersten Stück, fängt man an anders zu atmen, so viel Ruhe, Gelassenheit und Geborgenheit strahlen die einfachen Motive aus. Als würde Beving mit den Tasten lange vernachlässigte Grundbedürfnisse anschlagen, die er dann liebevoll melodisch massiert. Es klingt so vertraut, ein bisschen nach Satie und Chopin, dann nach Philip Glass, der Anschlag manchmal nach dem jungen Keith Jarrett. Kein Problem sich davon tragen zu lassen.
Beving braucht für seine Berühmtheit also keine Bewunderung oder Prestige. Wo andere Klassikstars über hohe Bühnen und rote Teppiche rauschen, wo sie hi-end-perfekte Aufnahmen abliefern, nimmt er den Hörer mit in sein Zuhause. Auf “Solipsism” hört man im Hintergrund die Pedale knarren und die Dielen seiner Altbauwohnung, der Raum atmet. Auf dem Stück “Saturday Morning” spielen im Nebenzimmer bei offener Tür seine Kinder, das Telefon klingelt, was überhaupt nicht stört. Im Gegenteil, gerade die alltäglichen Geräusche, über denen sein Piano, mal stoisch, mal zögerlich und verträumt erklingt, erzählen eine Geschichte, die den Hörer fasziniert. Ein kurzer Porträtfilm auf seiner Webseite führt durch diese Wohnung, zeigt Bevings Familie, ihn beim Autofahren zu einem Konzert. Man meint, ihn schon lange zu kennen. So einfach kann absolute Realität sein. “Solipsism” entführt seine Hörer in einen kollektiven Tagtraum.