Das neue Album von Hélène Grimaud und Konstantin Krimmel ist ebenso aktuell wie berührend. Es präsentiert eine Auswahl der “Silent Songs” des ukrainischen Komponisten Valentin Silvestrov, der vor rund einem Jahr aus dem Kriegsgebiet geflohen ist und in seiner Musik mit ungemeiner Dichte und Intensität fasziniert. Das Album ist am 3. März 2023 bei Deutsche Grammophon erschienen; ihm zugrunde liegt ein Konzert, das in Anwesenheit des Komponisten live eingespielt und gefilmt wurde.
Der Zyklus “Stille Lieder”, den Valentin Silvestrov in den Jahren 1974 bis 1977 komponierte, kennzeichnet eine wichtige Phase im Schaffen des ukrainischen Tonschöpfers und zeigt den Wechsel Silvestrovs von einem der führenden Vertreter der sowjetischen Avantgarde hin zu einem Komponisten von Musik, die ganz in der Tradition von Melodie und Harmonie verwurzelt ist. Hélène Grimaud hat dieses Opus vor langer Zeit für sich entdeckt und schätzt seine intime, ehrliche Tonsprache. So sagt sie: “Ich finde diese Musik sehr anrührend in ihrer Aufrichtigkeit und Transparenz. Sie ist sehr poetisch, versucht nie, etwas zu sein, das sie nicht ist. Sie hat eine ganz besondere Farbe und Textur. Und natürlich freue ich mich immer zu sehen, wie die Menschen auf sie reagieren”. Im Zentrum der “Silent Songs” von Silvestrov stehen bedeutende Werke der Dichtung, darunter Verse russischer Klassiker des Goldenen und Silbernen Zeitalters sowie eines bedeutenden ukrainischen Lyrikers, aber auch russische Übersetzungen britischer Gedichte. Silvestrov selbst beschreibt seinen Zyklus als “vertontes Schweigen”, in dem das menschliche Dasein in all seinen emotionalen Facetten zum Ausdruck kommt.
Der komplette Zyklus der “Silent Songs” umfasst 24 Lieder. Für ihr Programm haben Grimaud und Krimmel eine Auswahl von 12 Stücken getroffen, die mit einem besonderen melodischen Reichtum in den Bann ziehen. So sind unter anderem die Vertonungen der elegischen Liebeslieder von Jewgeni Baratynski zu erleben, auf die eine packende Bearbeitung von Keats’ “La Belle Dame sans Merci” in russischer Übersetzung folgt. Außerdem ist ein Gedicht des ukrainischen Nationalkünstlers Taras Schewtschenko zu hören, das im russischen Zarenreich als Grund für seine Verhaftung und Verbannung angeführt wurde, sowie Mandelstams “Und ich sag dir mit der letzten Ehrlichkeit”, Puschkins "Eine langweilige Zeit, Augen bezaubern“ oder die leidenschaftlichen Zeilen des jung verstorbenen Sergei Jessenin, einem der populärsten russischen Dichtern des 20. Jahrhunderts. Die Stimmen der verschiedenen Dichter verschmelzen in Silvestrovs Werk zu einer neuen Einheit und erscheinen als einziges, strömendes Lied. Dabei gibt es kein romantisches Thema im Sinne etwa eines Schubert, sondern ist vielmehr die Poesie selbst der Kern.
Die Aufnahme für dieses Album entstand an einem Konzertabend im Sommer 2022 in der Turbinenhalle am Stienitzsee vor den Toren Berlins. An diesem Abend begegneten sich Grimaud und Silvestrov zum ersten Mal persönlich – der Komponist war erst wenige Monate zuvor aus Kiew nach Berlin geflohen, wo er im September seinen 85. Geburtstag feiern konnte.
Hélène Grimaud beschäftigt sich seit vielen Jahren mit dem Werk Silvestrovs und so zeugt dieses Album von ihrem tiefen Verständnis der Tonsprache des Komponisten. Im Zusammenspiel mit dem Sänger erweckt sie die poetischen Lieder hingebungsvoll und facettenreich zum Leben und offenbart den großen Farbenreichtum der Komposition. In dem deutsch-rumänischen Bariton Konstantin Krimmel, Gewinner des Internationalen Helmut Deutsch Liedwettbewerbs 2018, hat Grimaud den idealen Bühnenpartner für die Interpretation der Silvestrov-Werke gefunden, der die Texte klangvoll ausdeutet. “Für mich sind wir Interpreten ein offener Kanal zwischen der Welt des Komponisten und der inneren Welt des Publikums. Erst wenn man ein Stück wirklich vorstellt, wenn der Klang hörbar wird, entsteht diese Verbindung zwischen Musiker und Zuhörer, und die ist sehr kraftvoll”, so Grimaud. Mit ihrem neuen Album wird deutlich, was sie damit meint.