Kaum ein Komponist ist mit so erhabenen Superlativen bedacht worden wie Johann Sebastian Bach. Schon sein erster Biograph, Johann Nikolaus Forkel, bezeichnete den Komponisten als den “größten musikalischen Deklamator, den es je gegeben hat”. Goethe empfand Bachs Fugenkunst sogar als göttlich, und für Max Reger, selbst ein begnadeter Komponist, ist Bach noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts “Anfang und Ende aller Musik”. Daniil Trifonov, der sich als herausragender Interpret romantischen Klavierrepertoires einen Namen gemacht hat, hegt keinerlei Zweifel an der Genialität Bachs. Doch er möchte Bach vom Himmel auf die Erde holen. Die Geschichte habe Bach “auf ein Podest erhoben”, wo er “unantastbar und unbeweglich” stehe, so der Pianist, der den Blick entschieden auch auf den Privatmenschen Bach lenkt, den Vater und Ehemann, der voller Humor und Lebensfreude gewesen sei, aber auch Täler der Trauer durchschritten habe. Diese Empfindungen spiegeln sich nach Trifonovs Überzeugung in Bachs Musik, und dem möchte der russische Starpianist auf seinem neuen Album nachspüren.
Unter dem Titel “Bach: The Art of Life” hat Trifonov Schlüsselwerke von Johann Sebastian Bach und dessen Söhnen Wilhelm Friedemann, Carl Philipp Emanuel, Johann Christoph Friedrich und Johann Christian Bach zusammengestellt. Mit dem breitgefächerten Repertoire bringt er das bunte Bach-Universum, das über die Wiener Klassik und die Romantik bis weit in die musikalische Gegenwart hinein gewirkt hat, in den schillerndsten Farben zum Leuchten: von der dunklen Klangpoesie eines Wilhelm Friedemann über die mondäne Weltläufigkeit eines Carl Philipp Emanuel, die italienische Eleganz eines Johann Christian Bach bis hin zu der imposanten Klangarchitektur des Altmeisters. Als bemerkenswerte Trouvaille birgt Trifonov die heiter beschwingten Variationen über “Ah, vous dirai-je, maman” von Johann Christoph Friedrich Bach, dem unbekanntesten der vier komponierenden Bach-Söhne.
Höhepunkt des Doppelalbums ist Trifonovs hypnotische Interpretation von Bachs Meisterwerk “Die Kunst der Fuge”. Virtuos durchschreitet der Pianist die komplexen Harmonien des Komponisten, lässt sie ebenso sanft wie klar hervorscheinen und erzeugt so eine meditative Stimmung von spirituellen Ausmaßen. Den letzten, unvollendeten Kontrapunkt des Zyklus vollendet er selbst, indem er die von Bach vorgezeichneten Linien in stiller poetischer Manier weiterzieht.
Sein Hauptanliegen, Bachs Lebensgefühle spürbar zu machen, verwirklicht er am eindringlichsten in der Chaconne, die Bach für Violine solo schuf und die Trifonov in einer Klavierbearbeitung von Johannes Brahms vorträgt. Bach komponierte das erstaunlich modern anmutende Werk kurz nach dem Tod seiner ersten Ehefrau Maria Barbara. Wie schwer er erschüttert war, macht Trifonov mit seiner feinfühligen Interpretation eindrucksvoll deutlich.
Trifonov, der bereits einen Grammy gewann und demnächst in der Kategorie “Instrumentalist des Jahres” für sein Album “Silver Age” mit dem “Opus Klassik” ausgezeichnet wird, beweist mit seinem neuen Album einmal mehr seine einzigartigen Fähigkeiten als pianistischer Stimmungspoet mit makelloser Technik. So virtuos und empfindsam, wie er der Musik und dem Leben Rachmaninovs oder Chopins nahe rückte, kommt er nun auch Bachs faszinierender Klangwelt auf die Spur.