Es gibt Kontexte und Zeiten, in denen Musik weit hinausreicht über ihren Gehalt an Melodien und Harmonien und zu einem politischen Statement wird. Bei dem neuen Album von Daniel Hope und Alexey Botvinov ist dies zweifelsohne der Fall. Dabei stehen ausschließlich Werke des ukrainischen Komponisten Valentin Silvestrov auf dem Programm, die einen vielschichtigen Einblick geben in die Kunst des Tonschöpfers und die in ihrer emotionalen Dichte tief berühren. Das Album wird am 30. September bei Deutsche Grammophon veröffentlicht.
Valentin Silvestrov ist einer der bedeutendsten zeitgenössischen Komponisten der Ukraine und hat in seinen Werken einen ausgesprochen originellen, eindringlichen und expressiven Stil etabliert. “Ich glaube, dass Musik – auch wenn sie nicht ›gesungen‹ werden kann – dennoch Gesang ist”, hat der Tonschöpfer selbst einmal gesagt. In seinen Kompositionen setzt er diesen Glauben in Tönen um und zieht mit sanglichen Linien, klangsinnlichen Phrasen und ausdrucksstarken Motiven in den Bann. Dabei strebt er stets nach einer “universellen Musik”, wie er sagt, nach Verbindungen durch Töne und Klänge also, die Grenzen überwinden. “Die Musik von Silvestrov lebt und atmet Melodie. Wenn wir sie spielen, nimmt das Publikum davon immer etwas mit. Ihre Einfachheit nährt, glaube ich, im Kern und unmittelbar die eigenen Gefühle. Er dringt zu dem vor, was Menschsein ausmacht”, so beschreibt Daniel Hope Silvestrovs Kunst. Die Schrecken des Krieges musste Silvestrov schon als Kind erfahren – damals erlebte er das von den Nazis besetzte Kiew. Nun, 80 Jahre später, wiederholte sich dieses Trauma und der Musiker floh schließlich angesichts der immer stärker werdenden Bedrohung nach Berlin.
Daniel Hope und Alexey Botvinov hatten das Album mit Musik von Silvestrov bereits im Sinn, bevor Russland in die Ukraine einmarschiert ist. So verbindet Daniel Hope und Alexey Botvinov schon lange eine enge musikalische Partnerschaft und ist Hope regelmäßig in Odessa zu Gast, wo er Konzerte beim vom Botvinov geleiteten Musikfestival Odessa Classics gibt. Angesichts der aktuellen Entwicklungen erhält das Album gleichwohl eine besonders eindringliche Strahlkraft. Auch Alexey Botvinov musste fliehen und Odessa verlassen; wie Silvestrov ist er nun im Exil.
Daniel Hope beschreibt Silvestrov als “starken, kompromisslosen Charakter”, der sich bis heute nie angepasst hat und unverkennbar seinen Weg gegangen ist. Diese Klarheit und Offenheit gleichermaßen spiegeln sich auch in seiner Musik. Auf dem neuen Album von Hope und Botvinov sind dabei ganz unterschiedliche Werke zu erleben, in denen der Komponist nicht zuletzt auch die Stile eines Schubert, Mozart, Tschaikowsky oder Bach aufgreift und in seine Musik verspielt einfließen lässt.
Im Zentrum steht eine Weltersteinspielung, das neunsätzige Stück “Pastorales 2020”, dem ein Zitat aus den ersten vier Takten von Ludwig van Beethovens Symphonie Nr. 6 in F-Dur vorangestellt ist. Zwei Kleinode sind die “Chopin-Augenblicke”, besonders prägnante und persönliche Hinwendungen wiederum die Stücke “25.10.1893 … in memoriam P. I. Tsch.” sowie die “Hommage à J. S. B.”. Ganz im Sinne seiner Orientierung am Gesang erklingen darüber hinaus die “Songs without Words” und der dreiteilige “Cycle VII” aus “Melodies of the Moments”. Ein besonderes Hörerlebnis ist zudem das Stück “Nostalghia” für Klavier solo, das Botvinov als “Mischung aus Free Jazz und Meditation” beschreibt, die mit “träumerischer, halluzinatorischer Qualität” überzeugt.
In ihrem intensiven Zusammenspiel loten Hope und Botvinov die Werke Silvestrovs feinsinnig aus und lassen die Stücke tatsächlich zu faszinierenden Liedern ohne Worte werden, deren emotionale Kraft und melodische Schönheit tief berühren. Nicht nur für die Interpreten, auch für die Hörer, erklingt Silvestrovs Musik dabei unweigerlich auch im Kontext des Geschehens in der Ukraine. So sagt Hope: “Die Musik von Silvestrov hat mich schon immer angezogen.” Angesichts der jüngsten Entwicklungen aber habe sich verändert, “wie man über diese Musik denkt, sie spielt und atmet. Nachdem wir die Musik nun aufgenommen haben – gerade jetzt – habe ich einen anderen Bezug zu ihr, sie hat etwas Vertrautes und zugleich Schmerzhaftes für mich”. Für Botvinov wiederum vermag die Musik gerade in Zeiten wie diesen zu trösten. So sagt der Pianist: “Ich empfinde – im Moment noch mehr als sonst in scheinbar ‘normalen’ Zeiten –, welche Kraft für uns alle in Musik steckt. Ich hoffe, dass die Menschen das fühlen, wenn sie unsere Silvestrov-Aufnahme hören.”