Fast schon aus der Versenkung hat sie ihn geholt. Edvard Griegs Klavierkonzert in a-moll galt lange als Streitross unter den großen Klavierkonzerten des 19. Jahrhunderts, als Plattform technischer Perfektion, als Paradenummer junger Solisten. In den letzten Jahren kam Grieg aus der Mode, verlor im Repertoire der Piano-Stars gegen Schostakowitsch und Messiaen. Nicht einmal zu seinem 100. Todestag erschien 2007 eine neue Aufnahme seines einzigen Klavierkonzerts – neben Peer Gynt immerhin das berühmteste Lang-Werk des norwegischen Früh-Modernisten. Die bekannteren Aufnahmen von Krystian Zimerman und Géza Anda datieren aus den 1980ern, in denen Grieg als “sentimentales Genie der Massenbeglückung” (welt.de) galt. Mit “Wonderland” holt Alice Sara Ott den skandinavischen Spätromantiker nun ins 21. Jahrhundert.
Zum Zeitpunkt der Aufnahme von “Wonderland” hatte sie Griegs a-Moll-Klavierkonzert schon zehn Jahre begleitet. Es sei “neben dem Ersten Klavierkonzert von Tschaikowsky, das Werk, mit dem ich die meisten Erlebnisse und Erinnerungen verbinde”, sagt die 28-Jährige. Das rund halbstündige Oeuvre brachte ihr eigenen Angaben zufolge einen anderen Zugang zur Musik. Und Alice Sara Ott verschafft auf “Wonderland” einen anderen Zugang zu seinem 16. Opus, das sie als großes Ganzes interpretiert, dabei auf die Raffinesse, die Effekte verzichtet, die den ruhigen Panorama-Blick auf Griegs grazile Klangwelten verstellen könnten. Nachdem sie ihre makellose Technik nicht mehr beweisen muss, wird Ott hier zum stillen Medium seiner nordischen Fantasy-Visionen, seiner heimeligen Lautmalereien voller vorbeihuschender Trolle und Fabelwesen.
Bei den Salzburger Festpielen 2011 – nach der Veröffentlichung ihrer triumphalen Liszt-, Chopin- und Tschaikowsky-Alben und einem Echo-Klassik-Preis als “Nachwuchskünstlerin des Jahres” – traf Ott den finnischen Komponisten und Dirigenten Esa-Pekka Salonen. Im Rahmen eines großen Dinners kamen sie ins Gespräch. Rasch wird sich dort abgezeichnet haben, dass der unkonventionelle Anti-Star Salonen mit seiner Affinität zur skandinavischen und osteuropäischen Moderne ihre Lesart von Grieg verstand und im Klangkörper des Orchesters umsetzen konnte. Erst im Januar 2015 fand die Aufnahme bei zwei Konzerten mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks im Münchener Herkulessaal statt.
Zu Lebzeiten galt Edvard Grieg als Norwegens Antwort auf Chopin. Richard Wagners mythischem Monumentalismus setzte er seine eigene pittoreske Märchenwelt entgegen. Als großer Formverweigerer ist er in die Geschichte eingegangen, statt Symphonien bevorzugte Grieg lockere Suiten, Fragmente, Tonbilder.
Aus seinen 66 Lyrischen Stücken (komponiert zwischen 1864 und 1901) und Stücken aus Peer Gynt hat Ott 12 zusätzliche Titel eingespielt, die “Wonderland” abrunden, insbesondere Griegs gänzlich unbekannte g-Moll-Ballade. Leicht kann so etwas in Häppchen-Kultur zerfallen, doch Ott schwebt hier innig und introvertiert durch eine in sich geschlossene fragile Miniatur-Welt, in der sie so unmerklich auf- und abtaucht, schließlich im Nichts verschwindet wie die Origami-Schmetterlinge, die sie für das Albumcover gefaltet hat. Es fällt schwer, aus diesem Tagtraum wieder in die Realität zurückzukehren.