“Die Zeit ist reif für Brahms”, so drückte Riccardo Chailly einmal sein Verlangen aus, den großen romantischen Komponisten endlich in seiner Eigenart erklingen zu lassen. Lange genug stand Brahms im Schatten von Beethoven.
Die Fachleute wussten zwar um seine Größe. Robert Schumann hatte sie schon früh erkannt. Trotzdem wiesen ihm die Geschichtserzählungen oft nur den zweiten Platz zu. Er galt als Fortsetzer, als Vollender des Beethovenschen Erbes, und aus dieser Perspektive blieb sein Eigensinn, seine höchst individuelle Klangwelt lange Zeit unerforscht. Dagegen regte sich allerdings stets Widerstand. Immer wieder tauchten Dirigenten auf, die geradezu verliebt waren in Brahms.
Größen wie Felix Weingartner, Arturo Toscanini oder Bruno Walter erkannten das Originalgenie des Komponisten, und sie arbeiteten mit solider Akkuratesse die ungeheuer schönen Klangfarben des Hamburger Komponisten heraus. Riccardo Chailly weiß diese Dirigententradition zu schätzen. Er hält große Stücke auf Felix Weingartner und ist alles andere als ein Revolutionär, der seine Vorgänger hinwegzufegen trachtet. Dennoch ist sein Anspruch gewaltig.
Chailly möchte, dass wir uns noch einmal neu auf Brahms einlassen. Die Zeit ist reif! Und dass dies in der Tat so ist, beweist jetzt aufs Eindrücklichste die vollständige Edition seiner Brahms-Aufnahmen mit dem Leipziger Gewandhausorchester. “Riccardo Chailly – Brahms. Complete Orchestral Music” versammelt auf 7 Alben alle vier Sinfonien von Johannes Brahms, die Serenaden und Ouvertüren, das Violinkonzert mit Leonidas Kavakos, die Klavierkonzerte mit Nelson Freire und das Konzert für Violine und Cello mit Vadim Repin und Truls Mørk.
Die Pracht der Harmonien, die dabei zum Vorschein kommt, ist überwältigend. Chailly entdeckt jedes kleine Detail bei Brahms. Er lässt nichts unbeachtet und widersteht konsequent der Versuchung, es mit Brahms vor allem krachen zu lassen und das schwerblütige Pathos des romantischen Komponisten mit großen Gesten oder Effekthascherei hervorzutreiben. Geduldig sinnt er den harmonischen und poetischen Ideen von Johannes Brahms nach, und was er dabei entdeckt, ist von so tiefer Wahrheit und Zärtlichkeit, dass es einem schier den Atem verschlägt.
Das A und O von Chaillys Interpretationskunst ist die klangliche Ausgewogenheit. Der italienische Dirigent will den ganzen Brahms, nicht nur den melancholischen, und dadurch kommen auch tänzerische Momente und leichtere Passagen bei ihm nie zu kurz. Das zeigt sich hervorragend in dem sinfonischen Zyklus, der von dem britischen Klassikmagazin Gramophone zur “Aufnahme des Jahres 2014” gekürt wurde. Der Zyklus wirkt in sich geschlossen.
Man spürt jederzeit, dass die Sinfonien bei aller Ideenvielfalt einen Zusammenhang bilden. In den Orchesterversionen der Liebeslieder-Walzer offenbart Chailly dann den melodischen Brahms, der sich folkloristischen Atmosphären anschmiegt. Erhaben und kraftvoll sind die Serenaden und Ouvertüren. Und die Konzerte zeigen Brahms als ungeheuer subtilen Harmoniker, der die feinsten Nuancen seelischer Regungen in Musik umzusetzen versteht. Summa summarum: Ein ergreifender Klangkosmos, für romantische Seelen ein Muss.