Johannes Brahms wagte sich nur zögerlich an die große Form. Nach zahlreichen Werken für Klavier, beflügelt durch die liebende Freundschaft zu Clara Schumann, gehörte das Orchester zu den Klangkörpern, mit denen er sich spät konsequent und ergebnisreich auseinandersetzte. Seine “Sinfonie Nr.1“ entstand 1876, kurz bevor sich der Mittvierziger endgültig in Wien als freischaffender Komponist niederließ. „Tief innen im Menschen spricht und treibt oft etwas, uns fast unbewusst, und das mag wohl bisweilen als Gedicht oder Musik ertönen“, sinnierte er gegenüber einem Freund und kennzeichnete damit die Vorgehensweise seiner Schaffenskraft. Im Anschluss an drei sehr unterschiedliche Sinfonien, zum Teil unter schweren Kämpfen den Selbstzweifeln abgetrotzt wie die erste oder aber in aller Leichtigkeit in den Sommerferien am Wörthersee zu Papier gebracht wie die zweite, näherte er sich mit seiner vierten einer endgültigen Form. Es ist ein Spätwerk, entstanden 1885, eine Synthese aus musikalischen Ahnungen und eindeutigen Traditionsbezügen wie im vierten Satz, einer streng komponierten Reihe von Variationen über ein achttaktiges Passacaglia-Thema, das Brahms aus der Bach-Kantate „Nach dir, Herr, verlangt es mir“ entlehnte.
Schüchterne Revolution
Die Reaktionen der Zeitgenossen auf solche Experimente waren geteilt. Manchen Hörern des 19.Jahrhunderts waren sie zu kompliziert, zu verworren, mit ihren kontrastreichen Themen geradezu ein irritierendes Beispiel spätromantischen Gestaltungswillens. Riccardo Chailly hingegen empfindet die vierte wie auch die vorangegangenen Symphonien als einen Fundus ausgefallener Themen und Bezüge auf die Klangkultur der Epoche. Überhaupt hat er sich für sein Projekt mit dem Gewandhausorchester, das er nach 15 Jahren an der Spitze des Concertgebouw Orchestra in Amsterdam seit 2005 als Chefdirigent leitet, tief in die Materie begeben. Er hat Partituren und Handschriften studiert, frühe Aufnahmen etwa von Felix Weingartner oder Bruno Walter untersucht, von Dirigenten, die zum Teil den Komponisten und dessen Vorstellungen noch persönlich kennengelernt hatten.
Selbstbewusste Interpretation
Auf diese Weise wuchs ein Programm heran, das auf 3 CDs nicht nur die vier Symphonien mit profunder Kraft und umfassendem Verständnis nahezu neu interpretiert, sondern darüber hinaus noch weitere kleinere Orchesterwerke hinzufügt, wie beispielsweise die Weltersteinspielung von zwei von Paul Klengel orchestrierten Intermezzi, die ursprünglich für Klavier geschrieben worden waren. Außerdem dirigiert Chailly Bearbeitungen der “Liebeslieder Walzer, op. 52/65“, die ursprüngliche Version des “Andante“ aus der “Symphonie Nr.1“, den revidierten ersten Satz aus der “Symphonie Nr.4“, die “Haydn Variationen“, drei “Ungarische Tänze“, die Brahms noch selbst orchestriert hatte, und eine Ouvertüre.
Unabhängig von der Box mit den Symphonien erscheint außerdem eine Aufnahme des Violinkonzerts mit Leonidas Kavakos als Solist, der sich auch für vier Tourneegastspiele im Oktober und November dem Gewandhausorchester und Riccardo Chailly anschließt. Brahms steht also in voller Pracht in den kommenden Wochen auf dem Programm, auf den Bühnen von Leipzig bis Paris, vor allem aber mit der Box der Symphonien.