Béla Bartók ist eine musikalische Säule des 20. Jahrhunderts. Obgleich er nicht zu den revolutionären Neuerern zählt, hat er der modernen Musik doch großartige Impulse gegeben.
Seine frühen Jahre sind von nostalgischen Empfindungen geprägt. Bartók sucht nach dem ästhetischen Eigensinn des ungarischen Volkes, das um die Jahrhundertwende immer tiefer in die eigene Geschichte zurückblickt. Der junge Komponist fragt sich: Was haben unsere Vorfahren gesungen? Welche Lieder gibt es da? Und ist es nicht die vornehmste Pflicht eines Komponisten, dieses Kulturgut zu bergen und weiterzugeben?
Bartók wird zu einem wichtigen Volksliedsammler, einem Musikethnologen. Er zieht Inspiration aus der Einfachheit, der ungeschützten Direktheit des Volksliedes. Aber dabei bleibt es nicht. Der hochsensible Komponist, der von einer unbändigen Neugier getrieben ist, arbeitet kreativ mit dem überlieferten Material. Er verleiht ihm eine ureigene Gestalt.
Das Geniale daran: Bartók entdeckt in der Folklore selbst modern wirkende Harmonieprinzipien, und er arbeitet sie in seine Werke ein. Urschöne, seltsam fremd anmutende Klanggebilde entstehen. Sie haben impressionistische Momente, denn Bartók ist stark von Debussy geprägt. Zugleich sind sie aber einfacher und klarer strukturiert als die verfließenden Klangbilder des experimentierfreudigen Franzosen.
Bartók ist empfindsam, romantisch und sehnsuchtsvoll, aber er ist nicht weltabgewandt. Seine Träumereien behalten eine gewisse Bodenständigkeit, eine Treue zum Alltag. Dennoch bleibt Bartóks Musik schwer zu fassen. Sie entzieht sich dem Zugriff. Aber genau hierin liegt ihr Reiz. Sie entführt den Hörer in fremde Welten, ohne ihn zu betäuben, und diese Reise mit klarem Blick kann man jetzt in einer großartigen Gesamtedition erleben, die aus Anlass des 70. Todestages von Béla Bartók entstanden ist.
“Béla Bartók – Sämtliche Werke” ist eine Edition nach Maß. Hier stimmt einfach alles: der musikalische Inhalt, die äußere Gestalt und der Neuigkeitswert. Die Gesamtausgabe enthält neben den mächtigen Orchester- und Bühnenkompositionen Bartóks, den subtilen Arrangements von Volksmusik, der fein differenzierten Kammermusik sowie den vielgestaltigen Arbeiten für Klavier und andere Instrumente auch Werke, die nie zuvor aufgenommen wurden und das Licht der Öffentlichkeit jetzt erstmals erblicken. Darunter frühe Kompositionen für Klavier, von Daniel Lebhardt hochkonzentriert dargeboten.
Hinzu kommen, ebenfalls mit Neuigkeitswert, etliche Liedkompositionen. Sie sind, unter der empfindsamen Klavierbegleitung von Simon Lepper, in reifen Interpretationen des Baritons Gyula Nagy und der Sopranistin Mária Celeng zu hören und berühren durch ihre emotionale Eindringlichkeit. Neu eingespielt sind ferner die 44 Duos für zwei Violinen. Die Nemetsu-Schwestern glänzen hier mit ihrem kongenialen Zusammenspiel. Die Interpreten all der anderen Meisterwerke, die auf den insgesamt 32 CDs versammelt sind, lesen sich wie das Who is Who der größten Sänger und Sängerinnen, Instrumentalisten und Dirigenten des 20. Jahrhunderts.
Die Reihe reicht von Julia Hamari und Christa Ludwig über Martha Argerich und Anne-Sophie Mutter bis hin zu Georg Solti und Pierre Boulez. Da die Ausgabe Werke enthält, die in der ungarischen Gesamtedition aus dem Jahre 2000 nicht vorkommen, besitzt sie ein klares Alleinstellungsmerkmal. Erfreulich sind auch die drei Bonus-CDs mit weiteren Interpretationen. Nichts zu wünschen übrig lässt schließlich die äußere Gestaltung der Edition: Zwei Booklets sind beigefügt. Sie enthalten einen brandneuen Essay von Kenneth Chalmers und die Liedtexte der Vokalkompositionen. So entsteht eine mustergültige Ausgabe.