Es ist viel geschrieben worden über Arvo Pärt und die Wiederentdeckung der Spiritualität in der zeitgenössischen Musik. Dabei war es vor 21 Jahren durchaus ein Wagnis, sich mit “Tabula Rasa” auf ein neues Feld der kunstvollen Schlichtheit zu begeben. Die Postmoderne postulierte gerade die Pluralität der Stile und Opulenz galt als Geist der Stunde. Doch Pärt und mit ihm das Label ECM ließen sich nicht beirren und starteten nicht nur eine inzwischen auf rund einem Dutzend Alben dokumentierte künstlerische Zusammenarbeit, die außerdem die Label-Tochter “New Series” ins Leben rief, sondern schufen die Basis für ein modifiziertes Verständnis von musikalischer Modernität, das längst in jungen Kollegen wie Lepo Sumera oder Erkki-Sven Tüür fortlebt. Am 11.September nun feierte Arvo Pärt seinen 70.Geburtstag. Und das orchestrale Klagelied Lamentate präsentiert ihn als feinsinnigen Verdichter urmenschlicher Gefühle der Vergänglichkeit, die er in eine musikalische Form gegossen hat.
Kritiker attestieren Arvo Pärt eine Intensität der Klangsprache, die weit über die Konventionalität der Gegenwartskunst hinausreicht. Sie ist seine besondere gestalterische Qualität und durchaus auch ein Resultat eines kurvigen, hindernisreichen Lebenswegs. Pärt wurde am 11.September 1935 im estnischen Paide geboren, war zunächst bis 1963 Schüler von Heino Eller am Konservatorium von Tallinn, arbeitete aber gleichzeitig als Tonmeister beim estnischen Rundfunk und war Komponist von verschiedenen Filmmusiken. War sein Frühwerk noch deutlich von der russischen Tradition eines Prokofjew oder Schostakowitsch beeinflusst, konzentrierte er sich Mitte der Sechziger auf serielle Gestaltungsformen, die in Materialcollagen wie die “Sinfonie Nr. 2” (1966) ihren Ausdruck fanden. Um 1968 entdeckte er die Musik des Mittelalters für sich, beschäftigte sich unter anderem mit Komponisten wie Guillaume de Machault und Josquin Desprez. Nach einer Orientierungsphase, die ihn wie in der “Sinfonie Nr. 3” (1971) zur europäischen Polyphonie führte, entstanden schließlich eigenständige und bedeutende Werke wie “Tabula Rasa” (1977) oder “Fratres” (1977–1985), in denen er seinen so genannten “Tintinnabuli”-Stil skizzierte, der, abgeleitet vom lateinischen Wort für “Glöckchen” (“tintinnabulum”), nach wechselnden, aber in sich festen Formen Skalen- und Dreiklangsmuster kombiniert.
Arvo Pärt emigrierte 1980 nach Wien. Ein Jahr später ging er nach Berlin, und von da an setzte seine internationale Karriere mit Werken wie “Passio Domini” (1982), “Stabat Mater” (1985) und “Miserere” (1989) ein. Sein Lamentate (lat: “Klaget!”) wiederum entstand 2002/3 und geht auf ein einschneidendes Erlebnis des Komponisten zurück. Als er das Londoner Tate Modern Museum besuchte, stieß er auf die monumentale Skulptur “Marsyas” des britischen Künstlers Anish Kapoor, der den antiken Mythos der gleichnamigen Gestalt, die auf der Doppelflöte mit Apollos Saitenspiel konkurrieren wollte und von diesem dafür als Strafe bei lebendigem Leibe gehäutet wurde, in einer ehemaligen Turbinenhalle umgesetzt hatte. Pärt war derart berührt und bewegt, dass er unter dem Eindruck dieses Werkes sein Lamento nicht als Klagelied für die Toten, sondern für die Lebenden selbst geschrieben hat, die mit dem Leid der Welt umzugeben haben.
Uraufgeführt wurde das elfteilige Lamentate auf der Grundlage eines liturgischen Gebets der Ostkirche im Jahr 2003 im Tate Modern Museum, die Aufnahme der New Series wiederum entstand mit dem SWR Stuttgart Radio Sinfonie Orchester unter der Leitung von Andrey Boreyko. Der Part des Klaviersolisten übernahm Alexei Lubimov, einer der letzten Schüler des großen Heinrich Neuhaus, der spätestens seit seinem Solo-Rezital “Der Bote” (2002) als ausgezeichneter und umsichtiger Interpret zeitgenössisch moderner Werke bekannt ist. Dem Werk vorangestellt ist außerdem das vom Hilliard Ensemble gesungene Vokalstück “Da Pacem Domine” (2004), das dem dunklen Klagelied ein mittelalterliches, mit Anklängen an die niederländische Schule gestaltetes Friedensgedicht zur Seite stellt. So ist ein berührendes Klangdokument entstanden, das den Jubilar Pärt in der von ihm christlich- spirituellen Tradition weiterführt, in Sphären noch immer wachsender Intensität der musikalischen Empfindung.