Gustav Mahlers 10.Sinfonie wurde nie verwirklicht. Es gab Pläne der Komponisten, sie fünfsätzig als „Dante- oder Infernosinfonie“ zu konzipieren, letztendlich entstanden aber 1910 nur das „Adagio in Fis-Dur“ und einige Skizzen zu einem Scherzo. Herbe Dissonanzen prägen den Klangeindruck, so dass die Mahlerforschung in der Regel davon ausging, darin ein Abwenden des Komponisten kurz vor seinem Tod von den Ärgernissen dieser Welt zu sehen. Uraufgeführt wurde das „Adagio“ erst 1924 unter der Leitung von Franz Schalk, spätere Bearbeitungen und Fortsetzungen der 10.Sinfonie zunächst von Ernst Krenek, aber auch von Deryck Cooke sind in der Musikwissenschaft umstritten, wenn sich auch inzwischen eine deutliche Parteinahme für die spätere Vervollständigung beobachten lässt. Der Schluss, der sich aus solchen Beobachtungen ergibt, ist durchaus kühn. Wenn Gustav Mahler sich vor allem auf die Ausweitung des orchestralen Materials konzentriert und die Überleitungen vorerst ausgelassen hatte, dann war er tatsächlich auf der Suche nach einer unerhörten Tonsprache, die sich in eben diesen, das Wesentliche skizzierenden Fragmenten verdichtete.
In diesem Punkt treffen sich die Ideen von Gustav Mahler sehr wohl mit denen von Matthew Herbert. Klang ist etwas Universelles, Existentielles, das nicht nur die Möglichkeiten einer Partitur umfasst. Für den britischen Tüftler und Soundphilosophen gibt es keine Trennung zwischen Kunst und dem realen Leben, denn in der unmittelbaren Empfindung treffen sich beide Bereiche. Als Sohn eines Tontechnikers der BBC von klein auf mit den Möglichkeiten der akustischen Veränderung vertraut, hatte er seinen ersten Achtungserfolg in den frühen Neunzigern, als er mit einer Chipstüte Musik machte. Seitdem hat er viel ausprobiert, Aufnahmen wie „Plat du Jour“ zum Beispiel, die nur mit Geräuschen von Lebensmitteln entstanden.
„Recomposed“ ist für ihn daher auch keine Spielerei mit den Sound-Gimmicks moderner Festplatten, sondern eine wirkliche Herausforderung. Hier ein unvollendetes, in seinem Kern ebenso experimentelles wie radikales Orchesterwerk, da ein Bearbeiter, der die Leerstellen der Orchesterskizze auf der Grundlage einer Aufnahme des Philharmonia Orchestras unter der Leitung von Giuseppe Sinopoli mit Geräuschen unterlegt, Passagen pathosmächtig überhöht, andere wieder komprimiert und letztendlich den visionären Charakter des Originals eher noch verstärkt als relativiert.„Meine Fassung soll keineswegs nur die Faszination des Todes darstellen, sondern eine Übersteigerung der unbequemen Balance, die Mahler zwischen Licht und Dunkel herstellte. Es ist die Lust am Konflikt zwischen der Furcht und der Herrlichkeit“, meint Matthew Herbert und baute dafür ein Autoradio in einen Sarg ein, ließ die Zehnte darauf abspielen und nahm das Ergebnis wieder auf.
Das Bratschensolo aus der Einleitung ließ er am Grab des Meisters in Wien neu einspielen. Über die Lautsprecher in einem Krematorium spielte er das Adagio ab und platzierte ein Aufnahmegerät hinter dem Vorhang. Es ging ihm darum, das Nebeneinander des Banalen und Erhabenen in Mahlers Werk, die ständige Reibung von Leben und Tod, Liebe und Verzweiflung, Größe und Vergänglichkeit sozusagen zu seinem Arbeitsmaterial zu machen. Das ist „Recomposed“ im Wortsinne, eine Fortführung der Ursprungsidee von Mahler Zehn, die in der Folge von Cooke, Krenek & Co. eine weitere, zeitgemäße Perspektive weist.
Weitere Informationen finden Sei auf www.recomposed.de.
Foto: Mahlers Komponistenhütte in Toblach, Italien von Lebrecht Music & Arts