Heute muss einem keiner mehr erklären, warum die Musik von Bach gut ist. Johann Sebastian Bachs Bedeutung übersteigt das Lebenswerk einer realen, historischen Person. Bachs Oeuvre gilt als Maß aller musikalischen Dinge und entwickelt sich dabei immer weiter. Im nicht abreißenden Strom ganz unterschiedlicher Bach-Interpretationen spiegelt sich das Werk des berühmten Barock-Komponisten als Ozean, als göttlicher Urquell.
… der Architekt von Klang-Kathedralen, Meister des Kontrapunkts, Experte der Etüde und Könner der musikalischen Kurzgeschichte. Ein Komponist, der “alles in sich trägt”, untermauert Ólafsson. “Es gibt nicht nur einen Bach. Da ist nicht nur der ernsthafte, der christliche und der große Bach. Da ist auch der verspielte Bach, der provokative Bach, der extrem kreative Bach, der spektakuläre Bach und jener Bach, der die Grenzen dessen ausgelotet hat, was auf dem Instrument überhaupt möglich ist”, sagt der schmale junge Mann mit den hellwachen Augen.
Dem 34-jährigen Künstler aus Island, einem der erfolgreichsten Klassik-Newcomer des vergangenen Jahres, gelingt auf seinem zweiten Album für Deutsche Grammophon nun eine virtuose Verschmelzung von Originalwerken Bachs mit diversen Transkriptionen, darunter auch einer eigenen. In Bach trifft der üppige, orgelähnliche Klang der Arrangements von Busoni und Stradal auf den jazzigen Ansatz Rachmaninows. Die Klangexperimente Alexander Silotis stehen der technischen Raffinesse Wilhelm Kempffs gegenüber. Ólafsson selbst schuf eine neue Transkription der Arie “Widerstehe doch der Sünde” aus der Kantate Nr. 54, “um zu sehen, wohin ich auf dem Klavier mit einer meiner Lieblingskantaten gelangen würde”.
Die Stücke stellte er nach Gehör zusammen, und er hebt in seiner Auswahl überraschende thematische Verwandtschaften, Verbindungen, Anklänge und Parallelen zwischen ihnen hervor. Das Eingangsmotiv des, ach, so sorglosen Präludiums G-Dur, mit dem das Album beginnt, hört man am Ende nochmals in der traurigen, tiefgründigen Fantasie und Fuge in a-moll, mit dem es ausklingt. Stellenweise kühn, dann auch ganz in sich gekehrt, kuratiert Ólafsson hier seinen Bach in einen ganz neuen Kontext, zeigt ihn wie in einem Kaleidoskop.
Bachs Werke gehörten eigenen Angaben nach schon früh zu seiner pianistischen Ausbildung und sie haben ganz verschiedene Phasen seiner musikalischen Karriere geprägt. Nach seinem Studium an der New Yorker Juillard-School ging Ólafsson 2008 nach England, wo er plötzlich niemand kannte und kaum Engagements hatte. “Nach über 20 Jahren wöchentlicher Klavierstunden und ständig zunehmendem Druck durch Konzertauftritte war ich plötzlich ziemlich frei und ohne einen Lehrer”, erzählt er. “Damals vertiefte ich mich in Bachs Werke und wurde in gewisser Weise sein Schüler, zumindest in meiner Vorstellung. Ich fand, dass Bach genau der Lehrer war, den ich brauchte, einer, der dich lehrt, dein eigener Lehrer zu sein.”
Zuletzt veröffentlichte Ólafsson ein Album mit den Solo-Klavieretüden von Philip Glass, in dem er seinen minimalistischen Patterns spiralförmige Strukturen verleiht und sie atmosphärisch verdichtet. Er behandle die Musik von Glass wie eine Skulptur, die man von allen Seiten aus bewundern könne, kommentierte die New York Times. Glass selbst zeigte sich begeistert! Was würde Bach zu Ólafssons neuer Veröffentlichung sagen? Würde er zustimmend nicken? Das hätten sicher auch gern Edwin Fischer und Rosalyn Tureck, Dinu Lipatti und natürlich Glenn Gould gewusst – einige der wichtigeren Bach-Interpreten. In seiner Laufbahn favorisierte Ólafsson mal den einen, mal den anderen, bis er Bach in sich selbst fand und dem zeitlosen musikalischen Guru eigene, “ganz wunderbare” Fragen stellte. Die Antworten findet der der Hörer nun in den nahtlos ineinander fließenden Stücken seines neuen Albums, das sich beim Hörer ganz intuitiv erschließt.