Der Gegenpol des Klangs ist die Stille. Musiker über alle Zeiten hinweg haben in ihr eine Kraftquelle für ihre Arbeit gefunden und auch für den Pianisten Seong-Jin Cho ist die ruhige Natur ein wichtiger Rückzugsort, “um Energie und Geist aufzutanken”, wie der Musiker sagt. Auf seinem jüngsten Album mit dem Titel “The Wanderer” vereint der 25-jährige Cho nun drei Höhepunkte des romantischen Klavierrepertoires, die den wandernden und suchenden Menschen auf ganz unterschiedliche Weise musikalisch begleiten. Neben Franz Schuberts “Wandererfantasie” ist hier die “h-Moll-Sonate” von Franz Liszt und die “Klaviersonate op. 1” von Alban Berg zu erleben. Das Album wird am 8. Mai auf Deutsche Grammophon veröffentlicht.
Das Wandern ist ein Urmotiv der Romantik. Dabei reichte die Ausdeutung meist weit über das konkrete Gehen hinaus und wurde das Wandern zum Sinnbild für den Menschen in Bewegung und auf der Suche nach innerer Einkehr, Erkenntnis und Sinn. Die Natur war und ist hierbei stets ein intensiver Lebensraum und sinnlicher Inspirationsquell für die Künstler. Dies galt auch für Chos Lieblingskomponisten Franz Schubert, dessen titelgebende “Wandererfantasie” in C-Dur D 760 im Zentrum des neuen Albums des Pianisten steht – für Cho geht es in dem höchst anspruchsvollen viersätzigen Stück “vor allem um Fantasie, um Vorstellungskraft, also um künstlerische Freiheit”.
Ein ähnlich monumentales Werk aus dem 19. Jahrhundert ist die Klaviersonate in h-Moll von Franz Liszt, die in ihrer symphonischen Weite und der einsätzigen Form wahrlich revolutionär anmutete. Aus Sicht von Cho handelt diese Sonate “von Leben, Liebe und Tod, von Mephisto und Faust” und gleiche sie in dieser existenziellen Dimension einem dreißigminütigen Lebenszyklus, dessen Höhepunkt in der Mitte liege.
Die Klaviersonate op. 1 von Alban Berg aus dem Jahr 1909 schließt in ihrer harmonischen Komplexität und ihrem Detailreichtum ästhetisch fließend an die vorherigen Stücke an und lässt sowohl Anklänge an Wagner als auch an die motivisch-thematische Arbeit von Beethoven und den französischen Impressionismus erkennen.
So unterschiedlich die drei Werke auf dem Album “The Wanderer” einerseits sind, so faszinierend sind zugleich die inneren Bezüge und die musikalische Verwandtschaft in der variantenreichen Weiterentwicklung eines einfachen melodischen Grundgedankens. “Mich fasziniert vor allem das Können der Komponisten, aus nur wenigen Elementen große Kunst zu schaffen”, sagt Cho. “Sie entwickeln die Substanz ihres Werks aus einem einzigen Motiv, das ist faszinierend. Solche Kreativität und Vorstellungskraft!” In seiner Interpretation gelingt es dem Pianisten eindrucksvoll, diese gewaltigen musikalischen Entwicklungen in den drei Werken mit inniger Musikalität und expressiver Dynamik musikalisch auszugestalten. Wie schon auf seinen ersten beiden Alben mit Werken von Debussy (2017) und Mozart (2018) beeindruckt der junge Interpret dabei mit großer Reife und Tiefe im Ausdruck. So wird Cho auf “The Wanderer” zum dramatischen Erzähler an den Tasten, der die emotionale Bandbreite und klangliche Vielfalt der Stücke eindrucksvoll auslotet, die musikalische Wanderschaft der verschiedenen Komponisten unmittelbar erlebbar macht.