Nach mehr als 40 Jahren hat Maurizio Pollini noch einmal die letzten drei Klaviersonaten von Beethoven eingespielt, und er sagt dazu Folgendes: »Die drei Sonaten wurden seinerzeit zwar einzeln gedruckt, man kann sie aber auch unter einem gemeinsamen Blickwinkel betrachten. Ich habe diese Meisterwerke in den letzten 40 Jahren sehr oft gespielt, und dabei ist mir immer wieder der Reichtum ihrer Details aufgefallen. Im Grunde lassen sie den Rahmen der klassischen Sonatenform weit hinter sich. Variation und Fuge spielen in ihnen eine mindestens ebenso wichtige und tragende Rolle wie die Sonatenhauptsatzform, und hinzu kommen vollkommen frei gestaltete Passagen, in denen sich das subjektive Erleben des Komponisten ganz unmittelbar auszudrücken scheint. Dabei fällt mir etwas ein, das Bettina Brentano in einem Brief an Goethe geschrieben hat: Beethoven habe einmal zu ihr gesagt, ›dass Musik höhere Offenbarung ist als alle Weisheit und Philosophie‹.«
In der E-Dur-Sonate op. 109 (vollendet im September 1820) wirken die beiden ersten, direkt aufeinander folgenden und vergleichsweise kurzen Sätze wie ein einziges großes Vorwort zum Schlusssatz. Im eröffnenden Vivace, ma non troppo finden sich noch Spuren der Sonatenform und so etwas wie Durchführung und Reprise, doch an die Stelle des zweiten Themas tritt ein Adagio espressivo mit dem improvisatorischen Gestus einer freien Fantasie. Das rasante und knapp gehaltene Prestissimo lebt von klar umrissenen, straffen und prägnanten Motiven, die eine einzige große Steigerung beschreiben, voll drängender Unruhe und Anspannung. Formal handelt es sich dabei um einen Sonatensatz mit zwei Themen, in dessen kurzer Durchführung die Basslinie des ersten Themas kanonisch verarbeitet wird.
Ein Variationensatz dient als Finale und reißt neue Horizonte auf. Was Beethoven in seinem Spätwerk mit den Mitteln der Variationstechnik leistet, hat nichts mehr zu tun mit dem virtuos-ornamentalen Stil seiner Zeitgenossen, sondern ist strukturell gedacht. Man spürt darin eine gewisse geistige Nähe zu Bachs Goldberg-Variationen, die seinerzeit als altmodisch galten. Beethovens Thema ist eine Hymne von inniger Schönheit und gliedert sich ganz regelmäßig in zwei Teile von jeweils acht Takten. Die folgenden Variationen widmen sich unterschiedlichen Aspekten des Themas. Die erste Variation überhöht seinen melodischen Bogen, während sich die zweite durch ihren Umfang und die Vielfalt der Stimmungen auszeichnet. Die dritte Variation führt das Thema im doppelten Kontrapunkt durch, bevor die vierte in freierer Kontrapunktik seine sangliche Seite betont. Die fünfte Variation, eine strenge dreistimmige Fuge von klarem und kompromisslosem Zuschnitt, steht in bemerkenswertem Kontrast zur Sanftmut und lichten Verklärung der letzten, die selbst wie eine Reihe von Variationen anmutet und von einem nahezu durchgängigen Dominantpedal getragen wird. Dieses wiederkehrende H verwandelt sich allmählich in einen Triller, der durch verschiedene Tonlagen wandert; im Schlussteil liegt er im mittleren Register, untermalt von schnellen 32-teln in der linken Hand, während in hoher Lage, noch über dem Triller, eine aufgebrochene Variante des Themas in abgesetzten Einzeltönen erklingt, als eine Art pianistisches Pizzicato. Mit dieser ganz und gar neuartigen Klangwirkung versetzt Beethoven seine Zuhörer – wie so oft in seinen letzten Werken – in eine Welt des Ätherischen, Durchscheinenden, Körperlosen, bevor am Schluss noch einmal die sanfte Ruhe des Themas aufgegriffen wird.
Die Sonate op. 110 von 1821 schlägt einen lyrischen und nachdenklichen Ton an, und ihre freien Formabläufe wirken höchst subjektiv. Im Kopfsatz lassen sich noch Umrisse eines Sonatensatzes erkennen, der jedoch ganz neu gedacht ist. Das zeigt sich bereits bei der Vorstellung des ersten Themas: Gegliedert in 4+7 Takte ist es in seinem intensiven, kantablen Gestus mit enorm vielen Details aufgeladen, die der Komponist für die weitere Entwicklung zu nutzen weiß. Die folgenden Figurationen in schnellen 32-teln wirken wie eine freie Fantasie, dienen jedoch als Überleitung zum zweiten Thema und stehen auf demselben harmonischen Fundament wie die ersten Takte (und in der Reprise fungieren sie darum auch als Begleitung des ersten Themas). Der lyrische Bogen des zweiten Themas schwingt sich empor bis in die höchsten Regionen der Klaviatur, und eine kurze Durchführung beschäftigt sich allein mit den ersten vier Takten dieses Satzes.
Mit dem brüsken Beginn des folgenden Allegro molto in f-Moll (einem Scherzo samt Trio) ändert sich die Stimmung schlagartig. Dieser Satz ist geprägt von abrupten dynamischen Wechseln zwischen Forte und Piano, einem dramatischen Chiaroscuro und Anklängen an volkstümliche Melodien, und der gewagte, instabile Mittelteil wirkt geradezu verstörend.
Der nächste Satz verschmilzt Adagio und Fuge. Mit seiner verinnerlichten Tonsprache scheint das Adagio die physischen Beschränkungen des Klaviers aufheben zu wollen, um es zu einem sanglichen Instrument zu machen, was einige bemerkenswerte Klangwirkungen zeitigt. So gelingt es Beethoven in einem berühmten Spannungsmoment, das Tasteninstrument quasi »zum Sprechen « zu bringen, wenn er mit einem mehrfach angeschlagenen A den Clavichord-Effekt einer »Bebung« nachahmt. Auf dieses Rezitativ folgt die nackte Trostlosigkeit des Arioso dolente (Klagender Gesang), das am Ende in einer Kadenz verlischt, aus der sich der ruhige und gelassene Beginn der Fuge herausschält. Diese Fuge steht für die Sehnsucht nach einer vernünftigen und menschlichen Zuversicht, ganz anders als die sperrig-verquere und hochkomplexe Schlussfuge von Opus 106. Überraschend wird das Arioso dolente noch einmal aufgegriffen: Perdendo le forze, dolente (Ermattet, klagend) notierte Beethoven hier im Autograph, als Sinnbild für einen Zustand der Erschöpfung, der sich auch im Auseinanderbrechen der klagenden Melodie niederschlägt. Nachdem sie verklungen ist, künden Akkordwiederholungen von wiedergewonnener Sicherheit, und die Fuge wird wieder aufgenommen, in der Umkehrung und dadurch in ein geradezu unwirkliches Licht getaucht. In nicht ganz korrektem Italienisch schreibt Beethoven hier poi a poi di nuovo vivente (nach und nach wieder auflebend), und am Ende mündet die Fuge in eine strahlende Bekräftigung, die auf kontrapunktische Techniken verzichtet.
Maurizio Pollini hierzu: »Starke Kontraste finden sich überall bei Beethoven: Der letzte Satz von Opus 110 schwankt zwischen völlig gegensätzlichen Stimmungen, und in Opus 111 liegt der tiefere Sinn der Komposition und ihr eigentliches Rätsel in der Beziehung zwischen dem tragischen Kopfsatz und der Arietta con variazioni.«
Die Sonate op. 111 erschien 1823 im Druck, und am Ende ihrer langsamen, düster-spannungsvollen Maestoso-Einleitung fungiert ein Triller in tiefer Lage als Überleitung zum Allegro con brio ed appassionato und zur Vorstellung des ersten Themas. Auf die gravitätische Kompaktheit der Anfangsakkorde antwortet dieses Thema mit einer angespannten, ganz aufs Wesentliche reduzierten Linie von herber Energie. Es wird kontrapunktisch, fast schon fugenmäßig durchgeführt, und in der wachsenden Spannung des ersten Satzes wirkt das zweite Thema wie eine Oase reinster Poesie, auf die jedoch sofort wieder eine Variante des ersten Themas folgt. In der Reprise wird das zweite Thema etwas breiter ausgeführt, bevor die Coda in einem Pianissimo-Schluss in C-Dur ausklingt.
Auf den dramatisch zugespitzten Konflikt des ersten Satzes antwortet die Arietta con variazioni mit feinsinnigen Betrachtungen, die gänzlich unberührt scheinen von aller Tragik, Verzweiflung und Enttäuschung und diese Gefühle dank ihrer visionären Kraft und durchgeistigten Klangsprache so weit verklären, dass eine Fortsetzung oder gar eine Rückkehr in andere Ausdruckswelten unmöglich scheint. Dieser Aspekt erschloss sich Schindler wohl nicht, als er bedauerte, dass Beethoven (nach eigener Aussage aus Zeitmangel) keinen dritten Satz komponiert hatte. Das unprätentiöse Thema wird für Beethoven zum Ausgangspunkt einer Reise ins Unsagbare. Wie im Lehrbuch beginnt er mit einer Reihe von Variationen in immer schnelleren Notenwerten, bevor er zu freieren Lösungen greift, die sich in kein Schema mehr pressen lassen. Bereits die dritte Variation verzichtet mit ihrer ungebändigten rhythmischen Energie auf die Wiedererkennbarkeit des Themas; die vierte Variation ist zweigeteilt und geht über in eine freie Episode voller rauschhafter Verzögerungen, die in einem körperlosen Flirren und Trillern endet und dabei den weitesten Abstand zwischen den beiden Hände erreicht. Die fünfte Variation beginnt als variierte Reprise und gipfelt in einer freien Wiederholung des Themas in hoher Lage, vorbereitet und eingehüllt von irisierenden Trillern: ein kostbarer Moment der Katharsis.
In seinen Konversationsheften notierte Beethoven ein berühmtes Kant-Zitat, das er voller Bewunderung unterstrich und mit drei Ausrufezeichen versah: »Das moralische Gesetz in uns, und der gestirnte Himmel über uns«. Maurizio Pollini findet den Gedanken reizvoll, dieses Zitat auf die vierte Variation der Arietta zu beziehen, auch wenn sich diese Hypothese leider nicht belegen lässt.
- Paolo Petazzi