Es war ein einmaliges wie überwältigendes Erlebnis, das die Besucher der Philharmonie in Berlin im Oktober 1979 genossen: Leonard Bernstein dirigierte anlässlich eines Benefizkonzerts für Amnesty International Gustav Mahlers 9. Sinfonie. Es spielten die Berliner Philharmoniker. Völlig zu Recht wurde Bernstein vor allem in den Siebziger und Achtziger Jahren als der herausragende Mahler-Dirigent gefeiert. Davon zeugt auch der komplette Zyklus der Mahler-Sinfonien, den Deutsche Grammophon 1998 veröffentlichte – Bernstein hatte ihn mit dem Royal Concertgebouw Orchestra, den Wiener Philharmonikern und den New York Philharmonic Orchestra aufgenommen. Auch deshalb darf der jetzt veröffentlichte Mitschnitt dieses im Sinne des Wortes “Ausnahme”-Konzerts durchaus als Besonderheit gewertet werden, denn es sollte die einzige Zusammenarbeit zwischen Stardirigent Leonard Bernstein und den Berliner Philharmonikern bleiben.
Bereits 1948 veröffentlichte Leonard Bernstein einen Aufsatz, worin er über Gustav Mahler folgendes schrieb: “Mahler ist vor allem ein Sänger. …ich weiß, dass er niemals eine unsangliche Note schrieb. Er singt nicht nur mit seinen Saiteninstrumenten, er singt auch mit Tamtam, Becken, Piccoloflöten und Celesta. Er singt, ob er sich nun schubertisch, bachisch, choralisch, jüdisch, fastoso, orgiastisch oder zu Tode betrübt fühlt.” Bernstein nannte Gustav Mahler den “Mann an der Schwelle unserer Epoche”, der “augenfällig mit großem Bedauern dem Raum Lebewohl sagt, der hinter ihm liegt und mit gleich großem Misstrauen blickt er dem hellen kahlen Raum entgegen, den er sich anschickt, zu betreten.” Es war genau dieser Geist, der dem bewegten Publikum in jenem Konzert Bernsteins 1979 in der Berliner Philharmonie aus jeder Phrase entgegen schlug.
Gustav Mahler selbst sah sich immer schon in einer Reihe mit den großen Sinfonikern des 19. Jahrhunderts. Entsprechend hoch war sein eigener Anspruch an seine Sinfonien. Im August 1909 schrieb Mahler an den Dirigenten Bruno Walter. “Sie haben für mein Stillschweigen den richtigen Grund erraten. Ich war sehr fleißig und lege eben die letzte Hand an eine neue Symphonie”. Er habe, so Mahler, “blind drauflos geschrieben und kenne jetzt, wo ich den letzten Satz eben zu instrumentieren beginne, den ersten nicht mehr”. In seiner Neunten Sinfonie habe er da etwas gesagt, “…was ich seit längster Zeit auf den Lippen habe – vielleicht (als Ganzes) am ehesten der vierten an die Seite zu stellen (doch ganz anders).” Die Neunte, von der hier die Rede ist, sollte Mahlers letztes vollendetes sinfonisches Werk bleiben und zugleich das erste, dessen Uraufführung er nicht mehr erlebte.
Sie deshalb als ein Resümee zu betrachten, in welchem summiert und zugleich weiterentwickelt, was er an Erfahrungen in diesem Genre gesammelt hatte und dabei auch gängigen Gepflogenheiten zuwiderläuft, ist deshalb naheliegend. So gab Mahler der Sinfonie keine Tonart vor. Sie beginnt in D-Dur und endet in Des-Dur. Oder das übliche Schema der Anordnung der einzelnen Sätze: Mahler gestaltet die Ecksätze der Neunten in langsamen Tempi, die sonst den Binnensätzen vorbehalten sind. In den Sätzen selbst reichen ihm die Modelle wie Sonatenhauptsatz, Durchführung zweier Themen, Coda, Reprise, Rondo etc. nicht mehr aus. Er bedient sich ungeheurer motivischer Vielfalt, fügt einzelne Episoden zusammen. “Symphonie heißt mir eben: mit allen Mitteln der vorhandenen Technik eine Welt aufbauen”, sagt Gustav Mahler.
Mit seiner Neunten hat er wiederum eine Welt errichtet, von der Alban Berg 1912, ein Jahr nach Mahlers Tod, im Jahr der Uraufführung an seine Frau Helene schrieb: “Ich habe wieder einmal die IX. Mahler-Symphonie durchgespielt. Es ist der Ausdruck einer unerhörten Liebe zu dieser Erde, die Sehnsucht, in Frieden auf ihr zu leben, sie, die Natur, noch auszugießen bis in ihre tiefsten Tiefen – bevor der Tod kommt. Denn er ist unaufhaltsam.” Bruno Walter war es schließlich auch, der Mahlers Neunte Sinfonie ein Jahr nach dessen Tod am 26. Juni 1912 in Wien uraufführte.
Dietrich Fischer-Dieskau beschrieb den “Mahler-Dirigenten” Bernstein so: “…Alle wichtigen Werke seines mährischen Wahlverwandten brachte er zu flammender Intensität, zu notengetreuen und doch aus nachschaffender Freiheit geborenen Wiedergaben. Bernsteins Schallplatten … führten zu jener Neuentdeckung Mahlers, ja zu einer Popularisierung des Komponisten in der ganzen Welt, von der sich zuvor niemand hätte etwas träumen lassen.”
Das Berliner Konzert hat dazu beigetragen, einmal mehr durch die jetzt erstmalige Veröffentlichung auf Vinyl.