Mit der wachsenden Popularität des Klaviers bei Amateuren setzte im frühen 19. Jahrhundert eine Schwemme von Veröffentlichungen mit kurzen didaktischen Klavierstücken ein. Praktisch jeder Virtuose, von Clementi bis zu Kalkbrenner, gab die Methodik hinter seiner Kunst in Form eigener Etüden oder Studien preis. Bis heute traktiert man junge Klavieraspiranten mit Sammlungen wie „40 tägliche Übungen“ oder „Die Kunst der Fingerfertigkeit“ von Carl Czerny. Die zwei Etüden-Sammlungen von Frédéric Chopin setzten sich von der überwiegend trockenen Materie in besonderer Weise ab. Zwischen 1828 und 1836 entstanden, beruhen seine Etüden opp.10 und 25 zwar auch auf unterschiedlichsten technischen Problemstellungen des Klavierspiels. Doch Chopin beseelte sie mit Raffinesse, Ausdruckskraft und Gefühl.
Technik als Nebensache
„Schönheit und Musik, darum ging es in diesen Etüden, der hohe technische Schwierigkeitsgrad ist zweitrangig“, meint Jan Lisiecki. Der kanadische Pianist begegnete ihnen zum ersten Mal im Alter von sieben Jahren. Zur Verbesserung seiner Technik hatte ihm seine Klavierlehrerin konventionelle Übungen vorgelegt. Doch Lisiecki sträubte sich. „Ich schaute mir diese Übungen an und sagte meiner Lehrerin, es sei keine Musik darin. Da gab sie mir Chopins langsame und lyrische Etüde op.10 Nr.3.“ Der heute 18-jährige Pianist sagt von sich, er versuche mit seiner Kunst die Schönheit der Musik zu zeigen, statt perfektes und virtuoses Spiel zur Schau zu stellen. Kaum passender hätte die Wahl für seine erste Solo-Recital-Aufnahme für Deutsche Grammophon ausfallen können. Die Etüden Chopins, von dem der Pianist Edwin Fischer einmal sagte, er habe das Klavier zum „Künder letzter Seelenvorgänge“ gemacht, „wie sie mit keinem anderen Instrument auszudrücken wären“, verlangen absolute manuelle Beherrschung und großes künstlerisches Gestaltungsvermögen.
Beseelt vom Geist des Konzerts
Für seine Einspielung wählte Lisiecki eine interessante Herangehensweise. Statt, wie heute vielfach üblich, die Stücke in kleinen Häppchen aufzunehmen und am Ende versatzstückartig zusammenzufügen, spielte er sie lieber in einem Zug durch. „Ich mag das Aufnahmestudio und seine Möglichkeiten“, erklärt er, „doch für mich muss die Musik trotzdem noch vom Geist eines Konzerts beseelt sein.“ Während der Aufnahmepausen dienten ihm andere Werke aus seinem Repertoire zur Lockerung und gewissermaßen als Erfrischung. So streute er einige Stücke von Messiaen ein oder spielte beispielsweise eine von Bachs Goldberg-Variationen vor Chopins Etüde op.25 Nr.1. „Das ändert die Stimmung, ähnlich wie bei einem Konzert. Wenn man ein Parfum kauft und zwischendurch den Geruch von Kaffee in der Nase hat, kann man den nächsten neuen Duft wieder mit frischen Sinnen wahrnehmen.“
Jedes Stück erzählt eine Geschichte
Um den Eindruck zu vermitteln, er stehe mit dem Zuhörer in ständiger Zwiesprache, wählte Jan Lisiecki für die schnellen Stücke relativ gemäßigte Tempi. Seiner Meinung nach sollte jedes Stück eine Geschichte erzählen, selbst wenn sich diese nicht immer in Worte fassen lasse. Die Etüde op.10 Nr 2 etwa ist als „Revolutionsetüde“ bekannt. „Doch so sehe ich sie nicht“, sagt Lisiecki. „Für mich benennt sie einen Schmerz, den man mit Worten nicht beschreiben kann – etwas, das von ganz tief innen kommt, ein Widerspruch, ein echter Zorn, die Frage ‚Wie kann ich damit zurechtkommen?‘“ Zwar habe er keine vollständige Geschichte für jede Etüde, bekennt der Pianist. Doch begreife er die Sammlung als einen übergreifenden erzählerischen Zusammenhang, wie ein Buch, in dem jedes Stück ein Kapitel bildet.