Eigentlich sollte Gustavo Dudamel nur als musikalischer Berater am Film “Libertador” mitwirken, erklärt Regisseur Alberto Arvelo. “Bald nach Beginn der Dreharbeiten sagte er mir jedoch, er habe eine Melodie erfunden, die als Eröffnungsthema funktionieren könnte. Als er sie auf dem Klavier vorspielte, wurde uns beiden klar, dass er schon damit begonnen hatte, unseren Soundtrack zu komponieren.”
Es verwundert kaum, dass Gustavo Dudamel so heftig für diese Filmmusik entflammte. Der venezolanisch-spanische Film, mit einem geschätzten Budget von 50 Millionen US-Dollar Lateinamerikas bislang größte Kinoproduktion, porträtiert Simón Bolívar, den Anführer und Vordenker der südamerikanischen Unabhängigkeitsbewegung. Bolívar wurde 1783 in Caracas, der heutigen Hauptstadt von Venezuela, geboren. Er wird hier wie nahezu überall auf dem lateinamerikanischen Kontinent als Befreier verehrt. Sein Geburtstag ist ein nationaler Feiertag in Venezuela. Die Landeswährung heißt seit 1879 Bolívar, wichtige Städte, Plätze, Straßen und Denkmäler tragen diesen Namen. Hugo Chávez, der umstrittene, 2013 verstorbene Staatspräsident Venezuelas, inszenierte sich als politischer Erbe Bolívars und rief in seinem Namen eine “sozialistische Revolution” aus.
Auch das 1975 gegründete Simón Bolívar Youth Symphony Orchestra of Venezuela beruft sich auf das emanzipatorische Vermächtnis Bolívars. Es steht als internationales Aushängeschild von El Sistema, jenem wegweisenden Musikerziehungsprojekt, das allen Kindern in Venezuela kostenfreien Musikunterricht ermöglicht, für eine “leise Revolution im Konzertsaal” (BBC). Gustavo Dudamel übernahm 1999 im Alter von 18 Jahren die Leitung des Orchesters, das nur noch Simón Bolívar Symphony Orchestra of Venezuela heißt, seit 2011 der Altersdurchschnitt über den Richtwert für Jugendorchester stieg. Dudamel hatte vor Beginn seiner Dirigentenlaufbahn eine musikalische Ausbildung im Rahmen von El Sistema genossen – wie übrigens auch Regisseur Alberto Arvelo, der bereits die Dokumentarfilme “Play and Fight” und “El Sistema: Dudamel, Let the Children Play” darüber gedreht und die von Dudamel dirigierte Multimedia-Oper “La Cantata Criolla” (2010) inszeniert hat.
Gustavo Dudamel verbindet in seiner Filmmusik für “Libertador” die aufwühlende Emotionalität spätromantischer Symphonik, als deren genialer Interpret er gefeiert wird, mit der archaischen Energie afro-lateinamerikanischer Rhythmen, die Teil seiner kulturellen DNA sind. Musikalischer Hauptdarsteller seines Soundtracks ist die Flöte. Ihr klagender Ton symbolisiert die Sehnsucht nach Freiheit, das zentrale Thema dieses Films – nur drei der 17 Titel kommen ohne ihre Mitwirkung aus. Pedro Eustache, ein international renommierter Flötist aus Caracas, hat in der Vergangenheit schon häufig mit Dudamel gearbeitet und darf hier alle Register seines Könnens ziehen: Seine indianischen Flöten verströmen folkloristisches Kolorit, der schrille Klang seiner Piccoloflöte schneidet sich durch das Schlachtengetöse und die Arabesken seiner Querflöte beschwören leidenschaftliche Glut.
Das Simón Bolívar Orchestra of Venezuela brennt hörbar für die Musik aus der Feder ihres Dirigenten. Es versprüht rhythmischen Elan, spielt stets geschmeidig und mit großer Ausdruckskraft. "Beim Schreiben dieser Musik war ich mir der Tatsache, dass das Simón Bolívar Orchestra of Venezuela diese Musik spielen wird, und ihrer Symbolwirkung stets bewusst", erklärt Gustavo Dudamel. “Denn in den glänzenden Qualitäten des Orchesters spiegelt sich Simón Bolívars Vermächtnis von Leidenschaft, Liebe und Hingabe wider. Jeder Musiker ist ein junger Mensch, der seine ganze Seele in jede einzelne Note legt. Diese Energie fließt nicht nur in die Musik ein. Vielmehr sind Musik und Energie ein und dasselbe.”