Seinen Ruf als einer der größten Dirigenten der Gegenwart hat sich Gustavo Dudamel vornehmlich mit romantischem Repertoire erworben. Aber schon seine elektrisierenden Alben mit Werken von Igor Strawinsky, John Adams oder dem “Star Wars”-Komponisten John Williams haben Dudamels besonderes Gespür für die Musik der Moderne und des 21. Jahrhunderts aufleuchten lassen. Er widmet sich ihr mit der gleichen Spontaneität und energetischen Wildheit, die er in Sinfonien von Beethoven oder Tschaikowsky an den Tag legt. Das Erfolgsrezept des jungen Ausnahmekünstlers, der seit über einem Jahrzehnt als Chefdirigent und Musikdirektor des Los Angeles Philharmonic fungiert, ist neben seiner musikalischen Intelligenz und persönlichen Offenheit sein ansteckender Enthusiasmus. Damit sorgte er in der bunten Kulturlandschaft Kaliforniens, wo Neugierde und Pioniergeist seit jeher hoch im Kurs stehen, beständig für Furore. Vorläufiger Höhepunkt seines Triumphzugs durch die Staaten ist sein 2019 angebrachter Stern auf Hollywoods berühmtem Walk of Fame.
Dass er auch musikalisch in den USA Wurzeln geschlagen hat, beweist seine zu Beginn des Jahres realisierte, frenetisch gefeierte Aufführung der vier Sinfonien des US-amerikanischen Komponisten Charles Ives mit dem LA Philharmonic. Mit seiner Interpretation der zweiten Sinfonie habe der Dirigent sogar “den amerikanischen Goldstandard” von Leonard Bernstein übertroffen, so die Los Angeles Times. Mitgeschnitten im Februar 2020 in der hochmodernen, für ihre glänzende Akustik bekannten Walt Disney Concert Hall, erscheint der gesamte Zyklus jetzt in einem digitalen Album. Wer farbenfrohe, mitreißende und lyrisch fein ziselierte Orchestermusik liebt, der wird mit dieser Ausgabe reich beschenkt.
Charles Ives gilt als Ikone der US-amerikanischen Avantgarde. Noch bevor sich im 20. Jahrhundert neue Standards des Komponierens etablierten, experimentierte der entdeckungsfreudige Amerikaner mit Collagetechniken, Polyrhythmik und Atonalität. Ives, der eine klassische Ausbildung genossen hatte, ließ wie selbstverständlich Gebrauchsmusik in seine Kompositionen mit einfließen. Ragtimes, kirchliche Hymnen oder amerikanische Volkslieder bildeten wesentliche Bestandteile seiner eigenwilligen Klangsprache, die sowohl kraft ihrer Originalität als auch ihrer besonderen amerikanischen Note wegen in die Musikgeschichte einging.
“Ives war ein Mann voller Ideen”, so Gustavo Dudamel. “Seine Sinfonien sind ein großartiges Geschenk an die Welt.” Wie recht er damit hat, bezeugt Dudamels gerade erschienenes Album. Der Dirigent bringt die komplexen Rhythmen von Charles Ives transparent zur Geltung. Den harmonischen Reichtum seiner Sinfonien lässt er in einem schier unendlichen Spektrum von Farbschattierungen erstrahlen.
Von der ersten Sinfonie, die noch stark spätromantisch geprägt ist, über die zweite mit ihrer eleganten Collage aus klassisch-europäischen und amerikanischen Elementen bis hin zur dritten mit ihrer berührenden Erinnerung an Lagerfeuerlieder aus Ives' Kindheit und der bahnbrechenden vierten mit ihrer atonalen Entgrenzung und ihrem großen Aufgebot ist es freilich ein weiter Weg. Gustavo Dudamel macht ihn zu einer kurzweiligen Abenteuerreise in die Neue Welt.