Große Vorbilder können einschüchternd sein. So fühlte sich Brahms eine Zeitlang von Beethovens Symphonien unter Druck gesetzt. Er hatte das Gefühl, dass diese Werke nicht zu überbieten sind. Manche musikalische Form verliert dadurch ihre kompositorische Attraktivität. Wie groß muss da erst der Druck sein, eine Passion zu schreiben. Wer dies heutzutage wagt, der sieht sich nicht nur vor den Riesen Bach gestellt, sondern auch mit der herkulischen Aufgabe konfrontiert, die Geschichte vom Leiden und Sterben Christi anschaulich und lebensnah darzustellen.
Minimalistische Prägung
John Adams hat die Herausforderung angenommen, und er scheut sich auch nicht, den Namen Bach zu nennen. Für Adams (67) scheint das große Vorbild eher Stimulans als Entmutigung gewesen zu sein. Der große amerikanische Komponist, der in den sechziger Jahren an die Harvard University kam, hat ein unverkrampftes Verhältnis zur Tradition. Als er studierte, hatten die seriellen Komponisten an der Universität das Sagen. Die Musik wurde immer intellektueller und entfernte sich zusehends vom Publikum. Jegliche tonale Harmonik war verpönt. Adams beobachtete die Entwicklung mit Argwohn und ließ sich von den Minimalisten inspirieren, die den Bruch mit der tonalen Tradition nicht mitvollzogen hatten. Die Minimalisten betonten gegenüber den Serialisten die einfache und konsonante Schönheit der Musik.
Pathos der Freiheit
Heute bezeichnet Adams seinen Stil als postminimalistisch. Er macht nicht dogmatisch Gebrauch von den Gestaltungsideen des Minimalismus, sondern greift da auf sie zurück, wo sie ihm ins Konzept passen. Diese Offenheit drückt sich auch in einem biographischen Erlebnis aus, das seine Musik bis heute nachhaltig prägt. Die Zeit seiner Ausbildung fällt zusammen mit der großen Zeit der Studentenrevolte, der Beatles und der Rockmusik. Adams liebte und liebt diese Musik bis heute, aber sie beunruhigte ihn damals auch. Er konnte das, was er über Schönberg gelernt hatte, nicht mit der Rockmusik zusammenbringen. Die, wie er sagt, “pseudo-wissenschaftliche, rationalisierte Lebensform”, die sich in der seriellen Technik ausdrückte, war nicht zu versöhnen mit den sinnlichen Ausbrüchen der Rockmusik. Und für Adams war klar, dass er auch als Komponist die populäre Musik in sich aufnehmen wollte.
Moment der Spannung
Nimmt man diese Prägungen zusammen, dann mag man ermessen, warum sein weltweit gefeiertes neues Werk “The Gospel According to the Other Mary” so spannungsgeladen ist. Adams hat nicht nur eine Passion gewagt, er hat alles in dieses Werk hineingelegt, was ihn musikalisch und politisch geprägt hat. Das Werk ist eher maximalistisch als minimalistisch, wie ein Journalist scherzhaft bemerkte. Das körperliche Moment, das Adams so sehr an der Rockmusik schätzt, ist allenthalben spürbar. Die Schlaginstrumente sind omnipräsent. Sie peitschen das Stück voran und erzeugen eine vibrierende Spannung, die nie aufhört, sondern allenfalls unterbrochen wird. Der Chor singt kräftig. Aber auch zarte Arien finden sich in dem Werk. Countertenöre rezitieren, ähnlich wie bei Bach, die Passionsgeschichte. Obwohl die minimalistische Prägung in langen Linien spürbar bleibt, schert das Werk doch aus jeglicher zuordenbaren Logik aus. Die Ebenen fließen nicht, wie sonst bei Adams, ineinander, sondern bleiben bewusst getrennt. Es ist der Moment der Spannung, den diese Passion zum meisterhaft Ausdruck bringt.
Der große Augenblick
Das Libretto von Peter Sellars passt kongenial zu dieser Absicht. Der renommierte Theaterregisseur, mit dem Adams seit Jahren zusammenarbeitet, hat mithilfe dichterischen Materials von Autoren wie Rosario Castellanos oder Dorothy Day den historischen Augenblick der Revolte in die Passionsgeschichte hineingeflochten. Das “Evangelium nach der Anderen Maria”, wie man “The Gospel According to the Other Mary” auch übersetzen könnte, ist aus der Sicht der Frauen geschildert. Maria Magdalena und Martha, die Schwestern von Lazarus, sind politisch engagiert. Sie setzen sich für obdachlose und arbeitslose Frauen ein. Es ist die Zeit der einfachen Leute, die Geschichte machen. Sellars denkt natürlich an 68. Ihn interessiert dieser Moment, in dem keiner mehr schlafen kann, weil jetzt etwas geschieht, das über alle Maßen bedeutsam ist. Die Anhänger Jesu, so Sellars, fühlten ähnlich. Auch sie wussten, dass etwas Großes geschieht und waren einerseits bedrückt angesichts der Verfolgung, andererseits aber auch voller Hoffnung, weil Christus durch seine Taten, zum Beispiel die Erweckung des Lazarus, bewiesen hatte, dass Rettung möglich ist.
Bachsches Erbe
Dirigent Gustavo Dudamel ist begeistert von der Zusammenarbeit zwischen Adams und Sellars. Er betrachtet es als ein großes Privileg, das Stück mit seinem Los Angeles Philharmonic und dem Los Angeles Master Chorale einspielen zu dürfen, und ist überzeugt, dass Adams und Sellars eine brillante Belebung der Passionsgeschichte gelungen ist. Dass das Werk jetzt schon in einem Atemzug mit Bachs Passionen genannt wird, gibt Dudamel recht. Gewiss, Adams zeigt selbst in diese Richtung, indem er formale Elemente von Bach übernimmt. Aber wenn ein Komponist, der eine Passion komponiert hat, so oft mit Bach verglichen wird, dann steckt mehr dahinter.