Das kompositorische Schaffen von Mieczysław Weinberg tritt allmählich aus dem Schatten seines Freundes und Förderers Dmitri Schostakowitsch heraus. Seit 2010 seine Oper “Die Passagierin” bei den Bregenzer Festspielen szenisch uraufgeführt wurde und in den darauffolgenden Jahren viele Schlüsselwerke des polnisch-jüdischen Komponisten in neuen Aufnahmen erschienen, weiß ein wachsender Kreis von Bewunderern um den ästhetischen Eigensinn und hohen Rang des musikalischen Solitärs, der auf der Flucht vor den Nazis in Moskau Zuflucht fand. “Alles, was er komponiert hat, ist gekonnt, ist vielseitig, ist eindringend”, so der lettische Geigenvirtuose Gidon Kremer, der sich seit 2009 intensiv mit Weinberg befasst und mit den Aufnahmen der Kammersinfonien Nr. 1–4, des Violinkonzerts op. 67 und den Sinfonien Nr. 2 und 21 (“Kaddish”) maßgeblichen Anteil an der Weinberg-Renaissance des zurückliegenden Jahrzehnts hat.
Schmerzhafte Erfahrungen
Kremer schätzt die menschlichen Dimensionen in Weinbergs Schaffen. Die Musik dieses Komponisten sei so faszinierend, “weil sie so viel erzählt, so viele Gefühle weckt”, so der Geiger gegenüber detektor.fm. Dabei ist es vor allem der Schmerz über die Tragödien des 20. Jahrhunderts, der sich in Weinbergs Musik Ausdruck verschafft. Die Familie des Komponisten wurde von den Nationalsozialisten ermordet. Weinberg selbst geriet in Moskau in die Mühlen des Stalinschen Terrors und wurde unter dem Vorwurf, einer jüdischen Republik auf der Krim das Wort geredet zu haben, inhaftiert. Nach Stalins Tod kam er frei. In den 1960er Jahren, als in der Sowjetunion eine Zeit des kulturpolitischen Tauwetters anbrach und der Druck auf die musikalische Avantgarde leicht nachließ, komponierte Weinberg seine drei Sonaten für Violine solo.
Einsame Meditationen
Der kleine Zyklus verrät schon vom nüchternen Titel her das Vorbild Bachs. Aber auch musikalisch wecken die drei Solo-Sonaten des Komponisten in ihrer formalen Geschlossenheit und expressiven Freiheit Erinnerungen an Bachs frappierend moderne Monologe für die Geige. Das gewagteste Stück auf dem Album ist die Sonate Nr. 3 op. 126, die Weinberg 1979 komponierte und seinem Vater widmete. Die dramatische Gespanntheit, der rhythmische Furor und die schneidende Heftigkeit der zahlreichen Doppelgriffe verlangen Gidon Kremer ein Maximum an Virtuosität und Einfühlungsvermögen ab. Der Geiger begibt sich mit Haut und Haaren in dieses Werk und führt lebhaft vor, dass man Weinbergs eigenwilliger Klangpoesie näherkommt, wenn man sich als Solist verausgabt. In den Sonaten Nr. 1 op. 82 von 1964 und Nr. 2 op. 95 von 1967 dominieren lyrische Stimmungen, denen Kremer sich geduldig und mit nie nachlassender Detailfreude annimmt, am eindringlichsten vielleicht im Andante der zweiten Sonate, das zunächst einfach, wie ein zarter Hauch daherkommt, bevor es sich komplex verzweigt.
Gidon Kremer, der 2005 bei ECM eine vielbeachtete Aufnahme von Bachs Sonaten und Partiten für Violine solo vorlegte, betrachtet sein neuestes Weinberg-Projekt als einen Höhepunkt in der Zusammenarbeit mit der New Series von Manfred Eicher. Sein Album, das Aufnahmen aus Lockenhaus (Sonate Nr. 3/2013) und dem litauischen Studio Residence Paliesius (Sonaten Nr. 1 und 2/2019) vereint, erscheint aus Anlass seines 75. Geburtstags am 27. Februar 2022.