Er hat als Geiger alles erreicht, was man erreichen kann: einen eigenen Stil, ein großes Publikum, bedeutende Preise und internationales Ansehen. Und doch ist Gidon Kremer kein bisschen müde. Er macht selbstverständlich weiter mit der Musik. Er will nach wie vor Neues entdecken und strebt sogar auf seinem hohen Perfektionsniveau noch Verbesserungen an. Gidon Kremer ist Vollblutmusiker. Er ruht nicht eher, bis er den idealen Klang, den schönsten Ausdruck eines Werkes erreicht hat.
Was er dann an Aufnahmen vorlegt, hat eine so hohe Qualität und weist bei aller Wiedererkennbarkeit seines Stils so viele überraschende Momente auf, dass es um seine Kunst nie langweilig wird. Gidon Kremer besitzt Ausdauer. Er kann sich ausgezeichnet konzentrieren, pflegt einen freundschaftlichen Umgang mit seinen Musikerkollegen und verbreitet, wo er auch hinkommt, enthusiastische Stimmung für die Musik und ein Klima der Offenheit und Experimentierfreude.
Diese Fähigkeiten haben im Verein mit seiner hohen Begabung eine beeindruckende Diskographie anwachsen lassen, und wann, wenn nicht jetzt, wäre der richtige Zeitpunkt dafür, sein Werk als Ganzes in den Blick zu nehmen. Der 1947 in Riga geborene Musiker blickt auf seinen 70. Geburtstag im kommenden Jahr voraus. Da ist es, auch wenn Gidon Kremer lieber nach vorne schaut, angezeigt, eine Bilanz zu ziehen. Deutsche Grammophon hat dies getan und in enger Kooperation mit dem Künstler eine große Kremer-Ausgabe erarbeitet.
Die soeben erschienene, limitierte Edition umfasst 22 CDs, darunter mit Alfred Schnittkes Concerto for Three auch unveröffentlichtes Material. Kremer hat das Werk mit seinem eigens von ihm gegründeten Kammerorchester, der Kremerata Baltica, aufgenommen. Der lettische Geiger kannte den deutsch-russischen Komponisten persönlich. Legendär ist seine Aufnahme von Schnittkes Klassiker Concerto grosso Nr. 1 mit dem Chamber Orchestra of Europe unter der Leitung von Heinrich Schiff.
Diese hochgespannte Einspielung mit dem flirrenden, erwartungsvollen Ton der Geige gehört zu den unangefochtenen Meisterinterpretationen moderner Kompositionskunst und findet sich ebenfalls in der neuen Ausgabe. “Gidon Kremer – Complete Concerto Recordings on Deutsche Grammophon” enthält sämtliche Konzert-Aufnahmen, die der lettische Geiger für Deutsche Grammophon und Philips getätigt hat. Ungewöhnlich an der Sammlung ist der reiche Schatz an modernem Repertoire.
Ein ganzer Strauß moderner Komponisten begegnet einem in der Sammlung. Neben Alfred Schnittke sind das frühere Avantgardisten des 20. Jahrhunderts wie Alban Berg oder Béla Bartók und zeitgenössische Größen wie Philipp Glass, Giya Kancheli, Arvo Pärt oder Sofia Gubaidulina. So bietet diese Edition einen hervorragenden Einblick in avantgardistische Geigenliteratur. Zugleich enthält die Ausgabe mit Repertoire von Bach, Vivaldi, Mozart, Paganini, Beethoven, Schubert, Brahms und Tschaikowsky auch einen reichen Fundus barocker, klassischer und romantischer Kompositionen.
Von edler Gestalt ist die äußere Rahmung der Edition. Die CD-Hüllen sind den Ersterscheinungen der einzelnen Alben nachgebildet, und das umfangreiche Booklet enthält mit dem kurzweiligen Essay des angesehenen Musikwissenschaftlers Wolfgang Sandner einen exzellenten Überblick über das Schaffen von Gidon Kremer. Zusammen mit den neuen Fotos des Geigers entsteht so das Portrait eines charismatischen Künstlers, der nicht durch Zufall kürzlich den Praemium Imperiale erhielt, den, wie man ihn auch nennt, “Nobelpreis der Kunst”.