“Brahms pur” urteilte die Zeitschrift FonoForum anlässlich der Veröffentlichung der LP-Version von Carlos Kleibers Brahms-Einspielung. Tatsächlich nimmt die im Jahr 1980 entstandene Aufnahme eine Sonderstellung in der Repertoirevielfalt der Gegenwart ein. Denn ihre Schärfe und Brillanz ist noch immer unerreicht, trotz zahlreicher und berühmter Konkurrenz.
Johannes Brahms wagte sich erst spät an große Orchesterwerke. Seine 1.Sinfonie entstand 1876, kurz bevor sich der Mittvierziger endgültig in Wien als freischaffender Komponist niederließ. “Tief innen im Menschen spricht und treibt oft etwas, uns fast unbewusst, und das mag wohl bisweilen als Gedicht oder Musik ertönen”, sinnierte er gegenüber einem Freund und kennzeichnete damit die Vorgehensweise seiner Schaffenskraft. Nach zahlreichen Werken für Klavier, beflügelt durch die liebende Freundschaft zu Clara Schumann, gehörte das Orchester zu den Klangkörpern, mit denen er sich spät konsequent und ergebnisreich auseinander setzte. Nach drei sehr unterschiedlichen Sinfonien, zum Teil unter schweren Kämpfen der eigenen Seele abgetrotzt wie die erste oder aber auch in aller Leichtigkeit in den Sommerferien am Wörtersee formuliert wie die zweite, näherte er sich mit seiner vierten einer endgültigen Form. Es ist ein Spätwerk, entstanden 1885, eine Synthese aus musikalischen Ahnungen und eindeutigen Traditionsbezügen wie im vierten Satz, einer streng komponierten Reihe von Variationen über ein achttaktiges Pascagalia-Thema, das Brahms aus der Bach-Kantate “Nach dir, Herr, verlangt es mir” entlehnte.
Die Reaktionen auf das Werk waren geteilt. Den Zeitgenossen war sie zu kompliziert, zu verworren, mit ihren kontrastreichen Themen geradezu ein chaotisches Beispiel spätromantischen Ausdruckswillens. Für Dirigenten wie Carlos Kleiber hingegen ist sie ein Fundus ausgefallener Themen und Bearbeitungen und gehört fest zu dem vergleichsweise kleinen Repertoire, mit dem sich der Dirigent in den Öffentlichkeit präsentiert. Die Zurückhaltung hat Methode, denn auf diese Weise gelingt es ihm, in überschaubarem Rahmen zu verblüffender Meisterschaft zu kommen: “Nie zuvor und auch seither nicht mehr habe ich die schweren Akzente der Streicherpizzikati im Anschluss an die acht festlichen Bläserakkorde so körperlich-sinnlich erfahren wie in Kleibers – man muss schon sagen – Neuschöpfung”, schwärmt der Musikwissenschaftler Peter Cossé. Und die Fachzeitschrift Opernwelt fügt hinzu: “Die unbändige Wucht und wilde Größe des Chaconne-Finales ist von den Wiener Philharmonikern vielleicht noch niemals so zerspringend im Ausdruck und so zwingend in den Steigerungen und Tempomodifikationen wiedergegeben worden wie unter Kleiber.” Mit anderen Worten, Brahms “4.Sinfonie” gerät unter seiner Leitung zu dem, was sie laut ihrem Urheber sein sollte: ein Bindeglied zwischen der Kraft der Romantik und dem Perspektivenreichtum der Moderne.
Die Referenz:
“Die Übernahme der nunmehr vier Jahre alten Einspielung der 4. Sinfonie von Brahms unter Carlos Kleiber in das CD-Angebot muß schlechthin als notwendig angesehen werden. So unbelastet von gedrückter Schwere ist dieses Werk heute nur selten zu hören.” (R.Schulz in FonoForum 3/85)
Näheres zur Referenz-Reihe unter http://www.referenzaufnahmen.de