Carlos Kleiber, er zählte zweifellos zu den absoluten Ausnahmen unter den Dirigenten des 20. Jahrhunderts, hat leider nur eine sehr überschaubare Anzahl von Platten aufgenommen.
Sein Misstrauen gegenüber jeglicher Schallplattenproduktion war bekannt: “Nur eine nicht produzierte Platte ist eine gute Platte.” Wenn er sich dann dennoch zu einer Produktion hinreißen ließ, dann war es neben seiner akribischen Vorbereitung und intellektuellen Durchdringung der Partitur vor allem seine unnachgiebige Präzision bei der musikalischen Umsetzung, die Musiker, Sänger und Publikum gleichermaßen faszinierte.
Die wenigen Aufnahmen, die dieser außergewöhnliche Dirigent für das Gelbe Label gemacht hat, bleiben Juwelen im Katalog. Anlässlich seines 20. Todestages werden sie nun auf dem Silbertablett serviert: Kleibers sämtliche Aufnahmen für die Deutsche Grammophon in einem neuen 14-Disc-Set, das 12 CDs sowie zwei zusätzliche Pure Audio Blu-ray Discs vereint, welche seine gesamte Produktion für das Label auch in HD-Stereo und in Dolby Atmos präsentieren.
Carl Maria von Webers “Freischütz”, Kleibers erste Aufnahme für die Deutsche Grammophon, kann man ohne Übertreibung als außerordentlich, ja geradezu revolutionär bezeichnen, lief sie doch jedem Klischee von deutsch-behäbiger Romantik zuwider. So impulsiv, voller expressiver Dynamik und Präzision hat man noch selten ein Opernorchester spielen gehört. Und seine “Freischütz”-Proben mit der Dresdner Staatskapelle sind legendär: “… Sie müssen sich ein Bild von Caspar David Friedrich vorstellen, diesen Wald, diesen Nebel hinter dem Nebel und dahinter den Mond in seiner Klarheit. So eine Art Klang muss man sich im Kopf vorstellen, einen romantischen, vollen Klang.” Und Kleiber besaß nicht nur die Fähigkeit, den Musikern und Sängern seine Vorstellung von der Musik rhetorisch zu vermitteln. Er war auch Pragmatiker, der, um beispielsweise den von ihm beschriebenen starken und zugleich romantischen Sound zu erreichen, mal eben vier zusätzliche Hörner einsetzte. Nicht anders bei der Auswahl der Sänger. Peter Schreier beschrieb seine eigenen Zweifel, als Kleiber ihn für den Max besetzte: Ob seine Stimme nicht zu klein für diese Partie sei? “Ich habe keine Angst vor der Höhe! Die Tiefe bereitet mir Sorge.” Aber Kleiber beharrte auf Peter Schreier – er wollte keinen deutschen Heldentenor in dieser Rolle. Hans Hirsch, Produzent dieser geradezu ikonischen Aufnahme, resümierte später: “Von der ersten Aufnahmesitzung an gelang es Kleiber, den Leipziger Rundfunkchor, die Solisten und das Orchester zu einem wundervoll miteinander muszierenden Team zu vereinen.”
Nicht anders bei den beiden anderen Opern in dieser Box: Wagners “Tristan und Isolde” – ebenfalls mit der Staatskapelle Dresden – und Verdis “La traviata” mit dem Bayerischen Staatsorchester. Und mit welcher Leichtigkeit das Bayerische Staatsorchester in der 1975 entstandenen Aufnahme der “Fledermaus” von Johann Strauß unter Kleibers Leitung spielt, ist bis heute ohne Beispiel! “Kleiber sorgt für den Super-Schwips!”, hieß es 1974, als der die Neuinszenierung der “Fledermaus” durch Otto Schenk an der Bayerischen Staatsoper dirigiert hatte. Als Überraschungscoup bei der Aufnahme hatte die Deutsche Grammophon damals den Bassisten Hans Rolf Rippert, der als “russischer Bassist” Ivan Rebroff vor allem mit russischen Liedern überaus erfolgreich war, in der Rolle des Fürsten Orlowsky in die Produktion geholt.
Anders als mit Kleibers intellektueller Strenge, seiner Leidenschaft und seinem Perfektionismus ist die Wirkung seiner Aufnahmen etwa von Beethovens 5. und 7. Sinfonie, nicht erklärbar. Man rieb sich Mitte der Siebzigerjahre die Augen: So hatte man diese so oft gespielten Werke noch nie gehört. Nicht anders bei der Vierten von Johannes Brahms oder den Schubert-Sinfonien Nr. 3 oder gar der “Unvollendeten”, der Nr. 8.
Bei aller Faszination bleibt Carlos Kleiber bis heute auch die Verkörperung des genialen Einsiedlers, der sich rarmachte, weil ihm vor dem Alltag des Musikbetriebs graute. Welch ein Glück, dass wenigstens diese Aufnahmen von ihm erhalten sind.