“Die exzellente Qualität setzt sich fort”, rief der britische Musikjournalist Edward Seckerson begeistert aus, als das zweite Album von Andris Nelsons' Schostakowitsch-Zyklus erschienen war. Der lettische Ausnahmedirigent sei bereits “mit einem Knaller” in sein ambitioniertes Aufnahmeprojekt sämtlicher Schostakowitsch-Sinfonien gestartet, “der elektrisierendsten Aufnahme der Sinfonie Nr. 10 seit fast einem halben Jahrhundert” (Gramophone). Umso erfreulicher sei die Tatsache, dass Andris Nelsons das sensationelle Niveau des ersten Albums halten könne.
Beide Auftaktalben wurden denn auch mit einem Grammy ausgezeichnet. Das dritte Album räumte bei der diesjährigen Grammy-Verleihung gar zwei Trophäen ab, einen in der Kategorie “Best Orchestral Performance” und einen in der Kategorie “Best Engineered Album, Classical”. Jetzt kommt das vierte Album heraus, und dass Andris Nelsons seine Fans auch auf dieser Etappe seiner Entdeckungsreise durch Schostakowitschs spannungsreiche Sinfonik nicht enttäuscht, spürt der Hörer auf Anhieb.
Das Album bietet alles, was Liebhaber großer Orchestermusik schätzen: Dramatik, leidenschaftliche Ausbrüche, lyrisches Feingefühl und träumerische Abschweifungen. Hinzu kommen die subtilen ironischen Gesten des Komponisten, der sich dem Zugriff des Stalin-Regimes mit musikalischen Ausweichmanövern zu entziehen suchte. Seit er mit seiner Oper “Lady Macbeth von Mzensk” in Ungnade gefallen war, ließ Schostakowitsch Vorsicht walten und vermied zunächst allzu deutliche avantgardistische Töne.
Umso frappierender sind die eigenwilligen Akzente, die er sich nur wenige Jahre nach der Aufführung seiner umstrittenen Oper in der sechsten und siebten Sinfonie gestattet. Diese beiden Werke bilden – neben der Suite aus der Schauspielmusik zu “König Lear” und der “Festouvertüre” – das Zentrum des gerade erschienenen Doppel-Live-Albums von Andris Nelsons. Sie zeigen einen Komponisten, der trotz äußerer Anpassung an das Sowjetregime seinen persönlichen Stil fand. Imponierend ist das Stimmungsspektrum der Sinfonie Nr. 6 in h-Moll.
Die filmisch anmutenden Klanglandschaften im Largo etwa sind von faszinierenden Gegensätzen gezeichnet. Mal erscheinen sie dunkel, unheilvoll. Dann wieder geht von ihnen eine ganz unverhoffte friedliche Wirkung aus. Andris Nelsons verfolgt diese wechselvolle Atmosphäre, die der widersprüchlichen Gefühlslage zu Beginn des Zweiten Weltkriegs geschuldet sein mag, mit imponierender Genauigkeit. In der Sinfonie Nr. 7 in C-Dur zeigt er sich dann von seiner impulsiven Seite.
Soghaft: Festliche Töne und dissonante Bläserintermezzi
Die heroischen Momente dieses mitreißenden Werkes, das Schostakowitsch der Stadt Leningrad und ihrem Kampf gegen die Hitlersche Besatzungsmacht widmete, arbeitet er kongenial heraus. Von eher dunkler Gestalt ist die Suite aus “König Lear”, deren dissonante Bläserintermezzi den modernen Schostakowitsch erkennen lassen. Die “Festouvertüre” zum Jahrestag der Oktoberrevolution wiederum, die Schostakowitsch ein Jahr nach Stalins Tod vollendete, gleicht einem Sturm der Zuversicht. Andris Nelsons und das Boston Symphony Orchestra verleihen diesem vorwärtsdrängenden Werk eine unnachahmlich soghafte Wirkung.