Andris Nelsons hat eine wahre Schostakowitsch-Euphorie ausgelöst. Drei Grammys konnte der lettische Stardirigent bereits mit seinem ambitionierten Aufnahmeprojekt, der Einspielung aller 15 Sinfonien von Dmitri Schostakowitsch, gewinnen. Die Kritik lobt das laufende Vorhaben in höchsten Tönen. Jede einzelne Veröffentlichung, so das britische Klassikmagazin Gramophone, lasse “klarsichtige Brillanz und technische Exzellenz” erwarten. Vier Alben sind seit Start des Projekts im Jahr 2015 bereits erschienen, acht Sinfonien waren darauf zu erleben. Jetzt kommt der fünfte Teil der Serie heraus. Auf dem Programm stehen die Sinfonien Nr. 1, 14 und 15, gefolgt von der Kammersinfonie in c-Moll, die Schostakowitschs Schüler Rudolf Barschai unter ausdrücklicher Billigung seines Lehrers aus dem Streichquartett Nr. 8 in c-Moll gewann.
Andris Nelsons schlägt auf seinem neuen Album einen großen Spannungsbogen. Zwischen der frühen, jugendlichen Sinfonie Nr. 1 in f-Moll Op. 10 aus den Jahren 1924/25 und den dunklen, klangpoetisch visionären Spätwerken des Komponisten liegt fast ein halbes Jahrhundert. “Unsere neue Aufnahme umspannt tatsächlich ein ganzes kreatives Leben”, so der Dirigent, der in der ersten Sinfonie von Schostakowitsch die “Aufbruchstimmung der neuen sowjetischen Gesellschaft” verkörpert sieht, während er die sinfonischen Spätwerke des Komponisten als Ausdruck seiner Todesangst und tiefen Verletztheit deutet.
Schostakowitsch, der als Schlüsselgestalt der musikalischen Avantgarde des 20. Jahrhunderts gilt, war vom Stalinschen Terror, dem Zweiten Weltkrieg und der sowjetischen Zensur gezeichnet. Aber er wusste seinen Schmerz in atemberaubende Musik zu verwandeln. Dabei gewann er eine innere Freiheit, die Bewunderung abnötigt und deren musikalische Vieldimensionalität Andris Nelsons in seiner hochgespannten Aufnahme eindrucksvoll abbildet.
Das Zittern und Bangen, die aus der inneren Erregung geschärfte Wahrnehmung, sind in der vierzehnten und fünfzehnten Sinfonie lebhaft spürbar. In der Sinfonie Nr. 15 in A-Dur Op. 141 (1971) dominieren Stimmungen flüchtiger Modernität. Die Sinfonie Nr. 14 in g-Moll Op. 135 (1969), bestehend aus elf Liedern zu Texten von vier Autoren, darunter Gedichte des literarischen Revolutionärs und Wegbereiters der Surrealisten Guillaume Apollinaire, besticht als lyrisches Klanggemälde der Moderne, zu dessen Schönheit der satte Bass von Alexander Tsymbalyuk und das samtene Timbre der Ausnahmesopranistin Kristīne Opolais einen maßgeblichen Beitrag leisten. In der ersten Sinfonie fesselt der frenetische Ton des Boston Symphony Orchestra, das in den USA als eines der “Big Five” gilt und sich durch eine erstaunliche Flexibilität auszeichnet. Die pulsierende Modernität Schostakowitschs beherrscht der für seine Offenheit und Experimentierfreude bekannte Klangkörper genauso brillant wie die elegischen Töne der Kammersinfonie.