Das war ein Einstand nach Maß. Andris Nelsons hat die Konzertwochen zu seiner Amtseinführung als Gewandhauskapellmeister in Leipzig sichtlich genossen. Der lettische Dirigent ist zwar kein Mann großer Worte. Auch drängt es ihn nicht ins Rampenlicht. Aber erstens ist seine Bodenständigkeit genau das, was in Leipzig ankommt, und zweitens herrschen am Pult ohnehin andere Gesetze.
Wenn er dort aufschlägt, dann dauert es oft nicht lange und er ist in einem anderen Orbit. Das Gute daran: Er nimmt das Orchester und Publikum mit auf seine Reisen. Nelsons’ Vorführungen gleichen einem Rausch. Man hebt ab, wenn man sich in den Sog des Gewandhausorchesters unter seiner Leitung begibt. Das war auch vor wenigen Wochen der Fall.
Das Gewandhaus hatte zu einem ganz besonderen Ereignis geladen. Gefeiert wurde Nelsons’ Amtseinführung als Gewandhauskapellmeister und das 275-jährige Bestehen des Gewandhausorchesters. Auf dem Programm diesmal: eine Auftragskomposition des Avantgarde-Komponisten Jörg Widmann und die monumentale Meistersinfonie Nr. 7 in E-Dur von Anton Bruckner.
Romantik und Avantgarde, Tradition und Moderne – geht das? Sind das nicht grundverschiedene Klangwelten? Nicht so bei Andris Nelsons, der noch die schärfsten Kontraste zu verbinden weiß. Seine Auftritte bei den Festwochen bestätigten dies eindrucksvoll. Dabei begeisterte seine Fähigkeit, große Bögen zu schlagen und gegensätzliche Stimmungen zu verbinden, besonders stark in Bruckners Sinfonie Nr. 7.
Andris Nelsons liebt dieses Werk, das im Jahre 1884 in Leipzig uraufgeführt wurde und dem österreichischen Romantiker im Alter von 60 Jahren zum endgültigen Durchbruch verhalf. Es war Arthur Nikisch, der die visionäre Kraft dieses Orchesterwerkes als einer der Ersten erkannte und es in Leipzig durchsetzte. Nikisch fühlte sich – ähnlich wie Nelsons gegenüber den heutigen Avantgardisten – den musikalischen Vorreitern seiner Zeit verpflichtet. Dass Bruckner weit in die Zukunft blickte, hört man seiner Sinfonik bis heute an.
Die rätselhafte Mischung aus leidenschaftlichen romantischen Ausbrüchen und mystischen Stimmungen zeigt deutliche Anzeichen von Modernität. Dabei werden die wilden Ausbrüche Bruckners stets von einer zart bergenden Melodik relativiert, deren Wärme in der Sinfonie Nr. 7 ganz besonders stark spürbar ist. “Diese Symphonie hat”, so Andris Nelsons, “Melodien von einer ganz besonderen Schönheit.” Bereits zu Beginn “entsteht eine wunderschöne und warme Atmosphäre, man fühlt sich förmlich umarmt von der Melodie”.
Diese überwältigende Schönheit, diese ungeheure Wärme der Sinfonie Nr. 7 konnte Andris Nelsons bei seinen furiosen Festkonzerten am 8. und 9. März 2018 glänzend hervorzaubern. Der jetzt erschienene Live-Mitschnitt, mit dem der lettische Dirigent seinen gefeierten Bruckner-Zyklus fortsetzt, ist ein beredtes Zeugnis hierfür. Das Gewandhausorchester taucht von Beginn an tief in die strömende Atmosphäre der Sinfonie Nr. 7 ein.
Der sanfte Ruf des Horns lockt unaufdringlich in das sinfonische Geschehen hinein. Was dann folgt, ist ein ganzer Kosmos von Stimmungen. Es ist, als erlebe man die Höhen und Tiefen der menschlichen Seele in Tongestalt. Ähnlich starke Gefühle provoziert Siegfried‘s Trauermarsch aus Wagners Oper “Götterdämmerung”. Ebenfalls ein Live-Mitschnitt der Festwochen, findet er sich auf Nelsons’ neuem Album an der Seite von Bruckners Siebter.