Rotterdam ist eine pulsierende Metropole: jung, wild und multikulturell. Die niederländische Hafenstadt gehört zu den führenden Industrie- und Handelszentren Europas. Sie besitzt den größten Seehafen des Kontinents, verfügt über eine beliebte Universität, eine unkonventionelle Musikhochschule mit vielerlei Angeboten und eine altehrwürdige Kunstakademie. Seit den achtziger Jahren ragt als Wahrzeichen des Wirtschaftsstandorts eine imponierende Wolkenkratzer-Silhouette in den Rotterdamer Himmel.
Ein buntes Gemisch, das brodelt. Kunst und Wirtschaft in ständigem Austausch, fasziniert, aber auch irritiert voneinander. Das zieht Leute an, die offen für Neues sind, Veränderung lieben und kulturelle Reibungen nicht scheuen, sondern als Inspirationsquelle begreifen. Yannick Nézet-Séguin passt deshalb gut in diese Stadt, deren philharmonisches Orchester er seit zehn Jahren leitet.
Schon jetzt gilt diese Dekade, die 2018 mit dem hundertjährigen Bestehen des Orchesters zusammenfällt, als Ära. Der kanadische Dirigent hat aus dem Rotterdams Philharmonisch Orkest einen Klangkörper von Weltrang gemacht. Musikalische Klasse und Leidenschaft gab es hier schon immer. Was lange Zeit fehlte, war ein Dirigent, der die Kräfte bündelt und ein schlüssiges Klangkonzept entwickelt.
Yannick Nézet-Séguin, der mit Beendigung der Saison 2017/18 das Zepter an den hochbegabten israelischen Dirigenten Lahav Shani weitergibt und dem Orchester künftig als Ehrendirigent verbunden bleibt, hat diese Lücke vorzüglich gefüllt. Die gerade erschienene Edition mit seinen gefeierten Live-Aufführungen der Jahre 2011 bis 2016 bestätigt dies eindrucksvoll. Was man hier erleben darf, ist romantische und neuere Orchesterliteratur in elektrisierend moderner Form.
Nézet-Séguin macht Beethoven und Tschaikowsky, Bruckner und Mahler fit fürs 21. Jahrhundert. Die musikalische Entfesselung, die vorausweisende Modernität der Romantiker ist selten so schillernd dargestellt worden wie von dem kanadischen Dirigenten in Rotterdam. Werke wie Debussys "Nocturnes“, Schostakowitschs Sinfonie Nr. 4 oder Bartóks "Concerto for Orchestra“ atmen von Hause aus den Geist der Moderne und passen deshalb kongenial zu der Art, wie Nézet-Séguin die Romantiker begreift.
Aber auch Haydns soghafte Trauer-Sinfonie fügt sich glänzend in diese Edition, die insgesamt sechs CDs umfasst und Nézet-Séguins Wirken in Rotterdam eindrucksvoll dokumentiert. Höhepunkt der Ausgabe, deren digitale Variante in Gestalt mehrerer Alben erscheint, ist zweifellos das Klavierkonzert des britischen Avantgarde-Komponisten Mark-Anthony Turnage. Die Weltpremiere dieser mit Jazzelementen und romantischen Versatzstücken spielenden Komposition wurde 2013 zur Sensation.
Wohl nie zuvor fand eine avantgardistische Komposition so schnell den Weg in die Herzen des Publikums. Marc-André Hamelin begeisterte am Flügel. Julian Haylock berichtet von diesem Live-Mitschnitt in seinem hochinformativen Begleitessay, der im Booklet dieser Edition abgedruckt ist. Wer mehr über das Repertoire der Ausgabe und die spannende Geschichte des Rotterdams Philharmonisch Orkest erfahren möchte, der darf sich zusätzlich zur Musik auf Lesegenuss freuen.