Eigentlich war das Projekt schon früher geplant: im Rahmen der Feierlichkeiten zu “Beethoven 250” sollte alle neun Sinfonien aufgeführt und aufgezeichnet werden.
Wie überall jedoch, so machte auch hier die Corona-Pandemie sämtliche Terminpläne zunichte.
Um so schöner, dass Yannick Nézet-Séguin und das Chamber Orchestra of Europe nun den ersten gemeinsam aufgenommenen Zyklus aller Beethoven-Sinfonien vorlegen können. Yannick Nézet-Séguin und das COE führten ihn in einem Minifestival mit vier Konzerten im Juli 2021 im Festspielhaus Baden-Baden vor begeistertem Publikum auf. Jedes Konzert der verspäteten Hommage an den Komponisten zu seinem 250. Geburtstag wurde live gestreamt und von der Deutschen Grammophon aufgezeichnet. Für die Neunte Sinfonie standen Siobhan Stagg, Ekaterina Gubanova, Werner Güra und Florian Boesch sowie der von Laurence Equilbey geleitete Chor "Accentus“ auf der Bühne.
Beethovens 1. Sinfonie wurde am 2. April 1800 uraufgeführt. Die Uraufführung der Neunten fand in einer der für Beethoven typischen großen “Akademien” am 7. Mai 1824 im Wiener Hoftheater am Kärntnertor statt. Beethoven selbst hatte die musikalische Leitung übernommen. Er war zu diesem Zeitpunkt bereits nahezu taub. Der Entstehungszeitraum des Sinfonien-Zyklus betrug also fast ein Vierteljahrhundert.
Parallel zu den ersten Sinfonien entstanden Beethovens Klavierkonzerte und das Violinkonzert. Ganz zu schweigen etwa von den Klaviersonaten, zum Beispiel der “Waldsteinsonate” op.53 – ohne sie wäre die kurz darauf komponierte “Eroica” op.55 kaum vorstellbar. Die 9. Sinfonie beschäftigte Beethoven über einen Zeitraum von neun(!) Jahren (1815–1824). Mitten in diese Zeit fiel die Arbeit an der “Missa solemnis”, gewissermaßen ein “Schwesterwerk” der 9. Sinfonie – Ausdruck höchster Spiritualität und zugleich Symbol für die menschliche Sehnsucht nach Frieden: “Brüder, überm Sternenzelt muss ein lieber Vater wohnen…” - auch diese beiden Werke haben sich befruchtet. Insofern ist die Entwicklung von Beethovens sinfonischem Schaffen im Zusammenhang mit der Entwicklung einer Vielzahl von musikalischen Ausdrucksmöglichkeiten zu sehen, an denen er sich versuchte.
Bereits vor dreißig Jahren hat das Chamber Orchestra of Europe den Beethoven-Zyklus aufgenommen, damals unter Leitung von Nikolaus Harnoncourt. Und schon diese Aufnahmen wurden als Pionierarbeit gewürdigt. Inzwischen hat die musikwissenschaftliche Aufarbeitung des sinfonischen Werkes Ludwig van Beethovens als ein lang andauernder Prozess jetzt mit der abgeschlossenen wissenschaftlich-kritischen Neuen Gesamtausgabe eine Zäsur erreicht. All die Artikulations- und Ausdrucksdetails in den verschiedenen Editionen, die aus mehreren Originalquellen stammen, sind nun systematisch eingearbeitet. Darüber hinaus gab es beim Notenmaterial spannende Entdeckungen. So wurde etwa die Rolle des Kontrafagotts in der Neunten Symphonie neu bewertet und überarbeitet. Dr. Beate Angelika Kraus vom Beethoven-Archiv in Bonn, die dieses Werk neu herausgegeben hat, geht in ihren Notizen, die im Booklet veröffentlicht sind, ausführlich auf dieses spannende Kapitel ein. Yannick Nézet-Séguin und das Chamber Orchestra of Europe präsentieren nun Beethovens neun Symphonien in dem ersten aufgezeichneten Zyklus überhaupt, der auf dieser Neuen Gesamtausgabe basiert!
“Mich interessiert, wie Beethovens Musik uns heute überraschen kann”, sagt Yannick Nézet-Séguin. “Unsere Interpretation soll dem Publikum das Gefühl geben, diese Musik zum ersten Mal zu hören. Das ist mein Ziel.”
Nun, wer diese Aufnahmen gehört hat, der weiß: Ziel erreicht!