Daniel Barenboim hat die Symphonien von Robert Schumann einmal mit einem Menschen verglichen, “der nicht so recht in die Gesellschaft passen will, weil er anders denkt und sich anders kleidet”. Offenbar haben ähnliche Gedanken den jungen Dirigenten Yannick Nézet-Séguin dazu bewogen, seine erste Aufnahme eines symphonischen Zyklus' gerade diesem Komponisten zu widmen, dessen Schaffen in diesem Genre ungleich weniger Ansehen genießt, als seine Lieder und Klavierwerke.
“Er ist einer jener Komponisten, deren Persönlichkeit sich vollkommen in ihrer Musik spiegelt”, erklärt Nézet-Séguin. “Ein Komponist wie Mozart konnte in seinen Werken Stimmungen kreieren, die sich vollkommen von jenen abhob, die ihn in seinem persönlichen Leben und Erleben zur Zeit der Komposition aktuell beschäftigten – Mozarts Musik klang besonders pur und rein, wenn es in seinem Leben gerade einmal wieder besonders drunter und drüber ging!”
Die Musik Schumanns sei dagegen weit enger mit der Vita des Komponisten verknüpft, meint der kanadische Dirigent. “Diese Fluktuationen zwischen Melancholie und Introvertiertheit verbinden sich mit einer sehr manischen Art der Energie, die die Welt zu erobern sucht. Derartige Brüche sind nicht nur von einem Satz zum nächsten zu beobachten, sie sind sogar innerhalb der gleichen musikalischen Geste, dem gleichen Motiv oder innerhalb einer Phrase zu finden. Das ist das Besondere bei Schumann.”
Robert Schumann schrieb im April 1839 an seinen Kompositionslehrer Heinrich Dorn: “Bald gibt es nur Symphonien von mir zu verlegen und zu hören. Das Klavier möcht' ich oft zerdrücken, und es wird mir zu eng zu meinen Gedanken”. Doch seine Symphonien zählen heute leider zu den seltener gespielten Werken. Es gehört es zu den Gemeinplätzen der Musikgeschichte, Schumann habe alle Werke aus dem Blickwinkel eines Klavierkomponisten heraus geschaffen. Die Instrumentierung seiner vier Symphonien zeige daher erhebliche Schwächen.
Yannick Nézet-Séguin vertritt die Auffassung, Dirigenten könnten dem Symphoniker Robert Schumann durch die Wahl der richtigen Mittel zu einer gerechteren Beurteilung verhelfen. “Vor allem Schumanns Symphonien sollte man am besten mit einem etwas kleineren Orchester spielen. Das ist nicht nur eine Frage der Balance, obwohl das übliche Problem des Gleichgewichts zwischen Holzbläsern und Streichern bei Schumann ganz besonders auffällt”, sagt er.
“Man nehme die Vierte Symphonie: Da ist so viel Tremolo drin, doch keines à la Bruckner, es ist hier eher als Dopplung einer Melodie zu verstehen, und es ist immer so schnell. Wenn man ein volles Orchester mit 30 Violinen hat, lässt sich dieses Tremolo nicht mit überzeugender Leichtigkeit oder mit dem Agitato spielen, den es benötigt. Doch mit einer schlanken Streichergruppe – schlank nicht nur hinsichtlich der Größe, sondern auch hinsichtlich des Musizierstils – funktioniert diese Musik ganz einfach.”
Nézet-Séguin hat bei seinen Konzerten mit dem Chamber Orchestra of Europe in der Cité de la Musique in Paris, die von Deutsche Grammophon im November 2011 für die vorliegenden Aufnahmen mitgeschnitten wurden, eine Streichergruppe von neun ersten und neun zweiten Violinen, sechs Bratschen, fünf Celli und vier Kontrabässen eingesetzt. Auch für die Besetzung der Blechbläser traf er eine individuell zugeschnittene Entscheidung.
“Heute gibt es die Tendenz, die Trompeten und Hörner etwas weniger laut spielen zu lassen, damit sie den Rest des Orchesters nicht übertönen”, sagt er. “Aber Biss, ein zupackender Ansatz und sauberes Spiel sind so wichtig. Mit den modernen Trompeten, die wir einsetzten, mussten sich die Musiker nicht einfach nur zurücknehmen, sondern auch auf eine bestimmte Art und Weise spielen, knackiger und mit stärker verklingenden Tönen. Das war faszinierend – die Streicher mussten nichts forcieren, und niemand musste weicher spielen.”
Yannick Nézet-Séguin und das Chamber Orchestra of Europe legen mit ihrem wunderbar schlank und transparent musizierten Zyklus ein leidenschaftliches Plädoyer vor, das den gewohnten Blick auf Schumanns Symphonien herausfordert.