Um die klassische Musik Europas zu fühlen und zu verstehen, muss man sie dort erleben, wo ihre Wurzeln liegen, hat Seiji Ozawa einmal gesagt. “Musiker aus China, Japan, Korea müssen ins Ausland gehen, um zu lernen – nach Europa, Amerika, Russland. Man kann nicht lernen, wenn man nur im eigenen Land bleibt.” Er weiß das aus eigener Erfahrung. Ozawa ist der erste klassische Musiker aus Asien, der im Westen Karriere gemacht hat und es bis zum international gefeierten Stardirigenten brachte. Yo-Yo Ma, Mitsuko Uchida, Kyung-Wha Chung, Lang Lang und viele andere asiatische Künstler sind seinem Beispiel gefolgt.
1959 war Seiji Ozawa Anfang Zwanzig auf einem Frachtschiff nach Europa gekommen. Offiziell reiste er als Handelsvertreter für den Konzern Fuji Heavy Industries Ltd., mit dessen neuem Motorroller und einer japanischen Flagge auf der Rückseite seiner Jacke er herumfuhr. Eine Mitarbeiterin der US-Botschaft in Paris soll von Ozawas Enthisuasmus so beeindruckt gewesen sein, dass sie ihm dabei half, im September 1959 am Internationalen Wettbewerb für junge Dirigenten in Besançon teilzunehmen, trotzdem die Anmeldefrist bereits verstrichen war.
Ozawa gewann den ersten Preis und ein Stipendium für das Berkshire Music Center (Tanglewood, USA), wo er als Protegé von Jurymitglied Charles Munch studierte. Nach dem Gewinn des Koussevitzky-Preises ging er nach Berlin, um bei Herbert von Karajan zu lernen. Die finanziellen Mittel dafür wurden vom damaligen Regierenden Bürgermeister Willy Brandt zur Verfügung gestellt. In Berlin lernte Ozawa auch Leonard Bernstein kennen, dem er 1961 als Assistent nach New York folgte. “All das geschah in nur zwei Jahren”, sagt der Dirigent im Rückblick. “Ich hatte unverschämt viel Glück.”
Nach ersten Stationen in leitender Funktion beim Toronto Symphony Orchestra (1965–1969) und bei der San Francisco Symphony (1970–1976) wurde Ozawa 1973 Musikdirektor des Boston Symphony Orchestra. Er blieb 29 Jahre in diesem Amt. Kein anderer lebender Dirigent hat derart lange mit einem großen Orchester zusammengearbeitet. Ozawa verankerte das Boston Symphony Orchester in der Weltspitze, verbesserte seine technische Präzision und entwickelte einen mächtigen Klang für das romantische Repertoire, dem er sich besonders nahe fühlt. Von 2002 bis 2010 war Ozawa Musikdirektor der Wiener Staatsoper. Spätestens mit Neujahrkonzert der Wiener Philharmoniker 2002 stieg er zum Weltstar auf.
Im kommenden Jahr feiert der große japanische Dirigent, der erst vor wenigen Wochen erklärt hat, seine Krebserkrankung überwunden zu haben und wieder dirigieren zu wollen, seinen 80. Geburtstag. Bereits jetzt kann man mit der 50CD-Box “Seiji Ozawa – The Philips Years” einen Panoramablick auf sein Schaffen werfen. Sie beinhaltet insgesamt 140 Einspielungen mit Werken von mehr als 50 Komponisten aus Klassik, Romantik und Moderne. Höhepunkte der Sammlung sind der komplette Mahler-Zyklus des Boston Symphony Orchestra (1980–1990/2002) und die Aufnahmen von Takemitsus “November Steps” mit dem Saito Kinen Orchestra (1969), Strawinskis “Petruschka” mit den Bostonern (1969) und Orffs “Carmina Burana” mit den Berliner Philharmonikern und den Solisten Edita Gruberowa und Thomas Hampson (1976).